So weit, so gut. Leider gab es ein kleines Problem: Wenn man Lösungen der Gleichung berechnete, ergaben sich Wellen – das war gut. Leider gab es immer auch welche mit negativer Energie, und zwar mit beliebigen Werten – das war nicht so gut. Eigentlich müsste ein Elektron sich doch früher oder später in den Grundzustand begeben, also in den Zustand niedrigster Energie. Den gab es nur nicht, die Energien waren nach unten unbegrenzt und das Elektron müsste also unendlich viel Energie verlieren können und dabei Zustände immer niedrigerer Energie annehmen.
Das wiederum passte nicht zur Beobachtung – Elektronen im Wasserstoffatom bleiben in einem wohldefinierten Zustand und verlieren nicht immer mehr und mehr Energie.
Schade – denn die Dirac-Gleichung war erstens schön, zweitens einigermaßen einfach und machte drittens die schöne Vorhersage des Spins und einiger Experimente. Und so beschloss Dirac, nach einer Lösung des Problems zu suchen, die die Gleichung unangetastet ließ. Und genial wie er war, fand er auch ziemlich schnell eine.
Elektronen gehorchen dem berühmten Pauli-Prinzip: Es können nie zwei Elektronen im selben Zustand sein. Jeder Zustand hat also nur Platz für ein Elektron. Wenn die ganzen Zustände mit negativer Energie alle mit Elektronen besetzt wären, dann könnte ein Elektron, das irgendwo herumfliegt, nicht in diese Zustände hineingeraten, weil sie schon belegt sind, genauso wie ein Elektron in der äußeren Elektronenschale eines Kohlenstoffatoms nicht in die innere Schale hineinkann, weil dort schon zwei Elektronen sitzen. (Das habt ihr, wenn ihr einen einigermaßen brauchbaren Chemie-Unterricht hattet, vermutlich mal in der Schule gelernt.)
Dirac postulierte also eine “See” (eigentlich sollte man “Dirac sea” wohl eher mit “Dirac-Meer” übersetzen- viele schreiben auch ganz verkehrt “der Dirac-See”) aus unendlich vielen Elektronen, die die ganzen Zustände mit negativer Energie besetzt halten. Wir merken davon nichts, weil diese Elektronen überall sind (und auch überall gleich) und so einen gleichmäßigen Hintergrund bilden.
So kann man sich das bildlich vorstellen:
By Incnis Mrsi – Own work, Public Domain, Link
Nach oben ist hier die Energie aufgetragen. Unten in blau sind die Zustände mit negativer Energie, die (fast) alle besetzt sind.
Aus dieser Idee ergibt sich eine spannende Schlussfolgerung: Trifft man eins der Elektronen in der See (also unten im blauen Teil) mit einem Photon mit genügend hoher Energie, so würde es in einen Zustand mit positiver Energie übergehen können (Pfeil links im Bild). Man würde also ein Elektron “erzeugen” (so würde es zumindest aussehen). Da, wo das Elektron aus der See herausgeschlagen wurde, würde jetzt aber auffallen, dass ein Elektron fehlt (so wie man auch eine Luftblase im Wasser deutlich bemerkt). Diese Fehlstelle würde sich als positive elektrische Ladung bemerkbar machen (weil eben eine negative elektrische Ladung in der See fehlt) und würde sich verhalten wie ein Elektron mit positiver elektrischer Ladung. In diese Fehlstelle könnte ein anderes Elektron wieder hineinstürzen (denn sie ist ja nichts als ein unbesetzter Zustand), so dass sich Fehlstelle und Elektron gegenseitig vernichten würden. Die Energie würde dabei wieder als Photon freigesetzt.
So wurde die Idee des “Antiteilchens” geboren – ein Antiteilchen ist nach diesem Konzept eine Fehlstelle in der Diracsee. Sie benimmt sich wie ein Elektron mit einer positiven Ladung, und wenn sie auf ein Elektron trifft, dann vernichten sich beide. Wenige Jahre später wurde das Antiteilchen des Elektrons, das Positron, mit genau diesen Eigenschaften auch tatsächlich nachgewiesen. Triumph für die Dirac-See!
So findet man das Konzept in vielen Büchern erklärt. Diracs großer Triumph wird deutlich hervorgehoben. Und dann geht es weiter mit Teilchen-Antiteilchen-Paaren und (wenn man die Fachbücher liest) mit dem Formalismus der Quantenfeldtheorie, mit anderen Teilchen und so weiter. Auf die Dirac-See wird meist nicht weiter eingegangen, das Konzept hängt ein bisschen in der Luft.
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