Wie ihr sehen können stört unser Kerb den Kraftfluss – die Kraftlinien konzentrieren sich direkt an der Kerbspitze (meist “Kerbgrund” genannt). Das ist ziemlich ähnlich zu einer (langsam) strömenden Flüssigkeit (tatsächlich sind die zu Grunde liegenden Gleichungen im wesentlichen dieselben). Diese Konzentration der Kraftlinien führt zu einer Spannungskonzentration (Die Spannung ist definiert als Kraft pro Fläche.).
Die Spannung direkt unter dem Kerb ist also gleich aus zwei Gründen größer als die im ungekerbten Bauteil: Zum einen, weil hier der Querschnitt abnimmt, zum anderen, weil sich zusätzlich die Kraftlinien direkt im Kerbgrund konzentrieren und die Last weiter erhöhen.
Vielleicht macht ein Zahlenbeispiel das etwas anschaulicher (vielleicht auch nicht?): Nimmt man beispielsweise als Durchmesser der Welle 100 Millimeter an und einen umlaufenden, halbkreisförmigen Kerb (so wie im Bild) mit Radius 5 Millimeter, und belastet das ganze mit einer Last von 1200 Kilonewton (also etwa 120 Tonnen), dann ist die Spannung weit weg vom Kerb etwa 150 Megapascal (Newton pro Quadratmillimeter, eine Spannungseinheit). Wegen des kleineren Durchmessers im Kerb würde man hier naiv eine Spannung von 189 Megapascal vorhersagen. Tatsächlich ist direkt unter dem Kerb die Spannung wesentlich höher – nämlich 516 Megapascal, also mehr als zweieinhalb mal so viel, als man nur wegen der Querschnittsabnahme erwartet hätte.
Halten wir also fest: Hat ein Bauteil einen Kerb (oder Riss, den genauen Unterschied diskutiere ich noch), dann gibt es eine Spannungskonzentration direkt am Kerb, die durchaus ziemlich groß sein kann.
Ingenieurinnen wissen das natürlich – entweder ermitteln sie die maximale Spannung gleich mit einer Computersimulation, oder sie verwenden so genannte Kerbformzahldiagramme, bei denen man für handelsübliche Bauteilgeometrien wie Wellen direkt ablesen kann, wie groß die Spannungsüberhöhung ist.
Für uns hier ist vor allem eins wichtig: Der Wert der Spannungsüberhöhung hängt von der Tiefe und vor allem von der Schärfe des Kerbs ab. Je kleiner der Kerbradius, desto schärfer der Kerb und desto größer die Spannungsüberhöhung. Die Zahl der Bauteile, die wegen eines zu scharfen Kerbs versagt haben (weil zum Beispiel für einen Absatz an einem Bauteil kein Radius angegeben war und der Dreher an der Drehbank gerade einen neuen scharfen Drehmeißel eingebaut hat, so dass der Absatz richtig scharf wurde) ist Legion.
Stellen wir uns als nächstes ein Bauteil (der Einfachheit halber denken wir uns eine sehr große Platte) vor, in dem ein langer, scharfer Kerb drin ist, etwa so:
Wir nehmen jetzt an, dass die Platte sehr groß ist im Vergleich zur Länge des Kerbs (ist im Bild nicht wirklich der Fall), und dass der Kerb wiederum sehr lang ist im Vergleich zum Radius an seiner Spitze – dann brauchen wir uns nämlich um die Details der Geometrie keine besonderen Gedanken zu machen. An der Spitze des Kerbs werden die Kraftflusslinien wieder umgeleitet. Je kleiner wir den Kerbradius machen, desto enger legen sich die Kraftflusslinien um den Kerb – die Spannung direkt im Kerbgrund wird immer größer.
Wenn wir den Kerbradius jetzt unendlich klein machen, dann bekommt der bisher ausgerundete Kerb eine scharfe Spitze – aus dem Kerb ist ein Riss geworden. Die Spannung an der Rissspitze wird jetzt sehr groß – rechnerisch geht sie gegen unendlich.
So sieht das ganze aus, wenn man es als Konturplot aufträgt:
Die dicke schwarze Linie bis zur Mitte symbolisiert den Riss. Am Bauteil wird oben und unten gezogen und aufgetragen ist die Spannung in senkrechter Richtung. Man sieht sehr schön, wie sie zur Rissspitze hin immer größer wird.
Falls ihr euch fragt, wieso denn nicht jedes Bauteil mit einem noch so kleinen Riss sofort kaputt geht, wenn doch die Spannung unendlich wird: die Antwort lautet, dass zwar die Spannung lokal gegen unendlich geht, aber Spannung ist Kraft pro Fläche. Betrachtet man beispielsweise die Kraft, die tatsächlich auf ein Atom an der Rissspitze ausgeübt wird, so ist die endlich groß. Streng genommen ist diese Unendlichkeit also ein Artefakt, aber da Atome im Vergleich zu typischen Risslängen winzig sind, ist eine atomare Betrachtung ziemlich sinnlos.
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