Die rechnerisch unendliche Spannung macht aber natürlich Probleme, wenn man ein Bauteil auslegen will. Man kennt zum Beispiel für einen Werkstoff Spannungs-Kenngrößen wie die Zugfestigkeit (oder Trennfestigkeit) – aber wenn die angelegte Spannung rechnerisch immer unendlich groß ist, dann nützt das natürlich nicht viel.
Eine genaue Analyse zeigt, dass man tatsächlich eine eigene Kenngröße braucht, um die Empfindlichkeit eines Materials gegen Risse zu spezifizieren – die üblichen Werte wie Zugfestigkeit oder Trennfestigkeit sind hier relativ nutzlos, weil das Verhalten des Materials stark davon abhängt, was genau an der Rissspitze passiert. Metalle zum Beispiel können sich plastisch verformen – dabei rundet sich die Rissspitze aus und aus dem Riss wird ein weniger schlimmer Kerb. Deswegen sind Metalle weniger rissempfindlich als Keramiken, die keine Plastizität haben. (Und deswegen zerbricht eure Lieblingstasse, wenn sie auf den Küchenboden fällt, während euer Lieblingsmesser da keine Probleme hat.)
Um das ganze mathematisch zu beschreiben, berechnet man den sogenannten Spannungsintensitätsfaktor K:
Dabei ist σ die Spannung weit weg von der Rissspitze, a ist die Risslänge und Y ein Geometriefaktor, der etwas über die Art des Risses (Oberflächenriss, Innenriss, Riss in einer Platte oder einem dreidimensionalen Bauteil etc.) aussagt. Diesen K-Wert vergleicht man dann mit dem kritischen Spannungsintensitätsfaktor, der ein Werkstoffkennwert ist. Ist der berechnete K-Wert größer als der Werkstoffkennwert, dann weiß man, dass das Bauteil versagen wird. (Bei sicherheitskritischen Bauteilen, z.B. in Turbinen, geht man so vor, dass man ein Detektionsverfahren verwendet, um vorhandene Risse zu finden. Wird damit kein Riss gefunden, dann nimmt man zur Auslegung an, dass ein Riss vorhanden war, der gerade an der Detektionsgrenze ist – so ist man auf der sicheren Seite.)
Wir haben jetzt also gesehen, dass ein Riss sozusagen der schlimmste Kerb ist, den man sich vorstellen kann – je schärfer, desto schlimmer, denn die Spannungsüberhöhung an der Rissspitze wird ja immer höher.
Damit können wir unser Experiment vom Anfang jetzt verstehen: Einmal habe ich einen scharfen Anriss mit einer Schere (mit extremer Spannungsüberhöhung), einmal habe ich einen Kerb mit einigermaßen großem Kerbradius. Wenn ihr Lust habt, ist es keine schlechte Idee, mal unterschiedliche Kerbformen auszuprobieren (habe ich vor ein paar Jahren mit Papier und nem Overheadprojektor auch mal in der Vorlesung vorgemacht).
Und was hat das jetzt mit Dino-Zähnen zu tun?
Man liest ja öfters, dass fleischfressende Dinosaurier “Zähne wie Steakmesser” hatten (manchmal auch noch “rasiermesserscharf”). Nun ja, wenn ihr damit nen Steak schneiden wollt, bitte sehr:
By John R. Horner, Mark B. Goodwin, Nathan Myhrvold – https://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0016574, CC BY 2.5, Link
Aber eins haben Raubsaurierzähne tatsächlich mit Steakmessern gemeinsam: Steakmesser haben oft Sägezähne, und so ist es auch bei den Saurierzähnen. Wenn ihr das Bild oben in der Vergrößerung anklickt, könnt ihr diese Sägezähne deutlich sehen.
Diese Sägezähne an den Dino-Zähnen sind praktisch, um Fleischfasern zu zerteilen (genau wie am Steakmesser). Sie haben aber einen Nachteil: Es sind böse und sehr scharfe Kerben. Am Grund solcher Kerben gibt es, wie wir gesehen haben, eine große Spannungsüberhöhung.
Dies ist auch dem Paläontologen William Abler aufgefallen. Und damit hatte er eine Erklärung für etwas, das man schon vorher bemerkt hatte: An den Enden der Sägezähne findet man bei einigen Dinosauriern (Abler hat sich Albertosaurus angesehen, einen nahen Verwandten des Tyrannosaurus) Löcher, sogenannte Ampullae. Aus copyright-Gründen kann ich hier leider kein Bild zeigen, aber google books hat einen Scan des Artikels – klickt auf den Link und schaut auf Teilbild e.
Abler folgerte, dass diese Ampullae als Rissstopper dienen, indem sie aus dem ansonsten sehr scharfen Kerb einen stark ausgerundeten machen. Allerdings muss man zwei Dinge beachten: Zum einen hat Abler das ganze nur qualitativ, aber nicht quantitativ betrachtet. Es wäre sicherlich eine nette Übung, mal mit Kerbformzahldiagrammen und Spannungsintensitätsfaktoren zu schauen, ob das Konzept auch quantitativ passt1. Zum anderen hat er festgestellt, dass solche Ampullae nicht bei allen Raubtieren mit Sägezahnung zu finden sind – der berühmte Dimetrodon zum Beispiel (der, der aussieht wie ein Krokodil mit Rückensegel) hatte sie nicht. Ob sie also wirklich notwendig sind, damit Zähne mit Sägemuster nicht zerbrechen, ist mir nicht ganz klar. Ähnliche Entlastungskerben setzt man übrigens auch in der Technik häufig ein.
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