1O.k., das ist zumindest grob geschätzt nicht besonders schwer. So eine Zahnung hat auf den Bildern im Artikel etwa eine Tiefe von einem Zehntel Millimeter. Nehme ich mal für Zahnschmelz eine geschätzte Risszähigkeit an, die einer mäßig guten Keramik entspricht (1Mpa√m), dann ergibt sich eine kritische Spannung von etwa 60 Megapascal, was nicht wenig ist, aber erst mal ganz plausibel klingt. Spätestens, wenn der Albertosaurus an einem Knochen nagt, könnten solche Spannungen sicherlich auftreten – Dentalwerkstoffe wie in einer Goldkrone haben typischerweise Festigkeiten im Bereich von 500 MPa und mehr. Ist die Zahnung tiefer, verringert sich die kritische Spannung entsprechend. Ich habe zwar kein Kerbformzahldiagramm für diese Rissanordnung griffbereit, aber man kann den Effekt der Ausrundung auf andere Weise abschätzen: Ein Metall würde sich an der Rissspitze plastisch verformen und eine ähnliche Ausrundung hervorrufen. Die Risszähigkeit eines Metalls ist typischerweise so etwa 50-100 mal größer als die einer Keramik, also erhöht sich die kritische Spannung entsprechend. Klingt also zumindest grob abgeschätzt nicht unvernünftig.
Jetzt aber weg von den Dinosauriern und hin zu unserem Alltag: Toilettenpapier. Das hat natürlich auch etwas mit Rissen zu tun, denn damit man es gut abreißen kann, ist es perforiert. Hier ist die Logik andersherum – man bringt mit Absicht kleine Risse ein, damit das Papier sauber da abreißt, wo man es abreißen möchte (falls ihr mal eine schlecht perforierte Rolle hattet, habt ihr vermutlich ein oder zwei Meter Papier auf dem Boden liegen gehabt).
Apropos Abreißen: Ist es euch auch schon mal passiert, dass ihr eine Tüte Gummibären oder ähnliches Naschzeug aufreißen wolltet, und erst ging es nicht und dann, mit etwas mehr Kraft, habt ihr gleich die ganze Tüte zerrissen und die leckeren Bärchen lagen auf dem Boden verstreut? Auch das ist ein Phänomen, das sich mit der Bruchmechanik leicht erklären lässt (es ist natürlich auch wahrscheinlicher, dass euch so etwas passiert, wenn ihr wie ich Grobmotoriker seid). Am Anfang ist der Anriss in der Gummibärchentüte (den die freundliche Firma ja extra zu diesem Zweck eingebracht hat) relativ kurz. Wir brauchen eine bestimmte Spannung, um den Riss wachsen und das Material versagen zu lassen, die durch die Formel von oben gegeben ist:
Hier ist Kc jetzt der Werkstoffkennwert, bei dem der Werkstoff versagt, der Riss also wächst. (Der “kritische Spannungsintensitätsfaktor” – tolles Wort, oder?) Lösen wir das nach σ auf, dann können wir die Spannung berechnen, die wir brauchen, um den Riss voranzutreiben:
Und hier seht ihr nun, dass die Spannung um so kleiner wird, je länger der Riss ist (die Risslänge a steht ja im Nenner). Wenn ihr also den Riss erst einmal wachsen lasst, dann wird es immer einfacher. Damit die Tüte nicht komplett zerreißt, müsst ihr also die Kraft, mit der ihr an der Tüte zieht, immer weiter reduzieren, je länger der Riss wird. (In Ingenieurssprache ausgedrückt: Ihr müsst den Versuch “weggesteuert fahren”, also die Bewegung der Hände vorgeben, nicht die Kraft.) Und wenn das (wegen der Grobmotorik) nicht klappt, dann liegen die Bärchen am Ende auf dem Teppich.
Wenn ihr das nächste mal eine Packung aufreißt oder eine Perforation seht, dann wisst ihr nun, dass das nur dank der Spannungsüberhöhung an der Rissspitze funktioniert.
Mehr über Risse und Kerben und Werkstoffe überhaupt findet ihr im absolut tollsten Werkstoffkundebuch, das je geschrieben wurde:
J. Rösler, H. Harders, M. Bäker
Mechanisches Verhalten der Werkstoffe
Der Artikel zu den Dinozähnen ist
W. L. Abler
“A Kerf-and-Drill Model of Tyrannosaur Tooth Serrations”
in: D.H. Tanke, K. Carpenter, “Mesozoic Vertebrate Life”,
Indiana University Press, 2001
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