Die (vermutliche) Entdeckung des Higgsteilchens hat ja zu einigen Diskussionen geführt – kann man das Higgsteilchen verstehen? Harald Lesch ist der Ansicht, 99,9% der Menschen könnten das nicht, ich habe mich ganz anders geäußert und behauptet, dass jeder es zumindest “ein bisschen” verstehen kann. Die große Diskrepanz zwischen diesen unterschiedlichen Lagern hat vermutlich weniger etwas mit dem Higgsteilchen zu tun und mehr mit der Frage, was man eigentlich meint, wenn man etwas “versteht”. Anhand des Higgsteilchens möchte ich hier unterschiedliche Aspekte oder Stufen des Verstehens auseinanderdröseln.
(Einige Aspekte habe ich vor langer Zeit schon angesprochen, als ich mir Gedanken gemacht habe, was eigentlich Anschaulichkeit ist.)
Vermutlich hat jeder, der nicht gerade in einer Höhle ohne Stromanschluss wohnt, mitbekommen, dass da etwas entdeckt wurde und dass dieses Etwas zumindest für die PhysikerInnen wichtig ist und ihre Theorien bestätigt. In gewisser Weise ist das wohl schon die erste Stufe des Verstehens:
Erkennen, dass da überhaupt etwas zu verstehen ist.
Auch das ist ja schon nicht ganz selbstverständlich – viele Erkenntnisse der Wissenschaft beruhen ja auch darauf, dass überhaupt erst einmal erkannt wurde, dass es da ein Phänomen gibt, das verstanden werden will.
Gut, es gilt also, das Higgsteilchen zu verstehen. Die nächste Stufe besteht jetzt wohl darin zu
Verstehen, welche Rolle es in der Natur (und der physikalischen Theorie) spielt.
In diese Kategorie gehört meine Kurz-Kurz-Erklärung, aber auch die ganzen Analogien mit Prominenten auf Parties oder mit Kugeln, die durch Honig fliegen. Diese Erklärungen sollen die wichtigste Eigenschaft des Higgsfeldes deutlich machen: Das Higgsfeld verleiht Elementarteilchen ihre Masse.1
Das Higgsteilchen ist eine messbare Anregung des Higgsfeldes, es ist sozusagen eine Störung in dem vollkommen gleichartigen Higgsfeld, die man deswegen sehen kann.
1Dabei wird übrigens meist unterschlagen, dass der größte Teil der Masse, die wir beobachten, nicht vom Higgsfeld erzeugt wird (rühmliche Ausnahme ist der ZEIT-Artikel von dieser Woche). Der Großteil der Masse von Atomen steckt im Atomkern und beruht auf der Energie der Bindung der Quarks innerhalb der Protonen und Neutronen; nur ein relativ kleiner Teil der Masse ist “echte” Masse. Das sollte ich vielleicht bei Gelegenheit auch noch mal ausführlich erklären. Die Aussage, dass unsere Welt ohne Higgsfeld vollkommen anders aussähe, bleibt aber richtig – Atomkerne hätten immer noch eine Masse, Elektronen aber nicht. Chemie wie wir sie kennen wäre dann nicht möglich.
Auch wenn diese Erklärung (ohne die Fußnote) schon ein bisschen Nachdenken erfordert, denke ich, dass sie prinzipiell auch für jemanden nachvollziehbar ist, der nicht Physik studiert hat. In diesem Sinne kann dann eben jeder das Higgsteilchen verstehen.
Dass Menschen wie der Interviewpartner von Lesch sagen, sie würden diese Erklärung selbst nicht verstehen, liegt vermutlich an zwei Dingen: Zum einen ist sie (gerade wenn man Anlogien wie Honig oder Parties verwendet) ganz offensichtlich eher metaphorisch, denn das Universum ist ja nicht wirklich von Honig durchzogen (und Party ist auch nicht überall). Zum anderen – und das ist vermutlich noch wichtiger – ist es eine Erklärung, mit der man wenig anfangen kann.
“Anfangen” ist hier in dem Sinne gemeint, dass man diese Erklärung zwar so schlucken kann, wie sie ist, aber man hat nicht genügend Informationen, um weiterdenken zu können. Wenn ich jemanden, der diese Erklärung bekommen hat, bitte, sich eine Eigenschaft der Higgsfeldes zu überlegen (z.B. bei der Honig-Analogie die Frage: Warum werden dann nicht alle Teilchen so abgebremst, dass sie zur Ruhe kommen?), dann merkt derjenige schnell, dass er darauf keine (oder eine offensichtlich falsche) Antwort hat.
Und hinzu kommt, dass auch immer noch nicht klar ist, warum das so sein soll. Warum können die Teilchen nicht einfach selbst eine Masse haben und brauchen dafür erst ein Higgsfeld? Das bringt uns zur nächsten Stufe des Verstehens:
Verstehen, wozu das Higgsteilchen “erfunden” wurde
Bis in die sechziger Jahre hinein hat niemand ein Higgsfeld gebraucht. Teilchen hatten einfach eine Masse, die als Faktor in der entscheidenden Gleichung der Quantentheorie (der Formel für die Lagrangedichte, falls jemand gern coole Fachausdrücke hört) auftauchte und damit konnte man das Verhalten von Elektronen und anderen Teilchen prima beschreiben.
Dann aber merkte man, dass die Radioaktivität die merkwürdige Eigenschaft hat, dass es Prozesse gibt, die nicht mehr ablaufen können, wenn man das beobachtete System einfach spiegelt. Das ist ungefähr so (Vorsicht, hier kommt wieder eine Analogie) als würden es die Gesetze der Mechanik zwar erlauben, normale Uhren zu bauen, aber solche, die gegen den Uhrzeigensinn drehen, wären einfach unmöglich.
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