Nehmen wir aber an, jemand hätte all diese Verständnisebenen einigermaßen verinnerlicht – er oder sie kann die Gleichungen nachvollziehen und daraus auch anschauliche Erklärungen ableiten. Nach viel Mühe ist das etwa das Niveau auf dem ich mich befinde (auch wenn ich die Gleichung oben auch nicht ohne nachzuschlagen interpretieren oder damit gut herumrechnen könnte) – das sage ich aber nicht, um anzugeben, denn wie ihr gleich sehen werdet, ist das noch nicht das Ende der Verstehens-Fahnenstange. Nimmt mir nämlich jemand meine Bücher weg, dann bin ich aufgeschmissen. Die Rechnungen sind zu lang, als dass ich sie auswendig könnte (wäre auch wenig hilfreich), und mein Verständnis hat nicht die nächste Stufe erreicht.
Verstehen, wie man das Higgsfeld herleitet
Diese Stufe ist nämlich erst dann erreicht, wenn ihr selbst die Gleichungen nicht bloß nachvollziehen könnt, wenn sie vor euch stehen, sondern wenn ihr sie selbst herleiten könnt, nur an Hand der prinzipiellen Idee, wie das Higgsfeld funktioniert.
Der Physiker Richard Feynman war bekannt dafür, dass er diese Art des Verstehens bevorzugte: Wenn er von einer neuen Theorie hörte, dann versuchte er, nur die Idee aufzuschnappen und sich dann die Theorie selbst noch einmal herzuleiten. (Wenn ihr allerdings kein Genie seid, dann dürfte euch das seeehr viel Zeit kosten oder auch gar nicht klappen.) Auf diese Weise hat er die Theorie natürlich in noch viel fundamentalerer Weise verstanden (ob Feynman das beim Higgsteilchen so gemacht hat, weiß ich nicht, in vielen anderen Fällen aber schon).
Auf der Tafel in Feynmans Büro fand man bei seinem Tod die Sätze (ein Bild und einen Artikel dazu findet ihr hier)
“What I cannot create, I do not understand.”
[Was ich nicht erschaffen kann, verstehe ich nicht.]und
“Know how to solve every problem that has been solved.”
[Wissen, wie man jedes jemals gelöste Problem löst.]
Über die Bedeutung dieser Sätze ist oft spekuliert worden, aber ich gehe davon aus, dass sie in genau dieser Weise gemeint sind: Man versteht eine Theorie nur dann, wenn man sie selbst an Hand der Idee auf einem Blatt Papier wieder aufstellen und nachrechnen kann. Das ist sicherlich eine sehr tiefe Art des Verstehens und es gibt vermutlich nicht allzu viele Menschen, die das Higgsteilchen in dieser Weise in allen Einzelheiten verstehen.
Es ist aber immer noch nicht das Höchste der Gefühle.
Das Higgsfeld intuitiv verstehen
Der höchste Grad des Verstehens ist vermutlich erst dann erreicht, wenn man ein intuitives Gefühl dafür hat, wie die Theorie (in diesem Fall das Higgsteilchen) funktioniert. Der Physiker Paul A. M. Dirac hat einmal gesagt
I consider that I understand an equation when I can predict the properties of its solutions, without actually solving it.
[Ich gehe davon aus, dass ich eine Gleichung verstehe, wenn ich die Eigenschaften ihrer Lösungen vorhersagen kann, ohne sie tatsächlich zu lösen.]
Um die Theorie wirklich zu verstehen, muss man sie soweit verinnerlicht haben, dass man die Lösung eines Problems “sieht”, dass man schon weiß, was herauskommen wird, bevor man anfängt zu rechnen.
Von Feynman gibt es eine ähnliche Aussage. Als er nach einem wichtigen Satz der der Quantentheorie (dem Spin-Statistik-Theorem) gefragt wurde, versprach er, darüber eine Vorlesung für Studienanfänger zu halten. Einige Tage später sagte er
I couldn’t reduce it to the freshman level. That means we really don’t understand it.
[Ich konnte es nicht auf Anfängerniveau herunterbrechen. Das bedeutet, dass wir es nicht wirklich verstehen.]
Das kennt vermutlich jeder, der selbst Vorlesungen hält oder Blogeinträge schreibt: Man denkt, man hat etwas verstanden, aber wenn man versucht, es anderen möglichst einfach zu erklären, dann merkt man plötzlich, dass da doch noch Lücken sind. (Ein probates Mittel, wenn ich mit einem Problem gar nicht weiterkomme, ist deswegen immer, es jemand anderem zu erklären zu versuchen. Oft merke ich dann beim Erklären selbst, wo die Schwierigkeit steckt.)
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