Verstehen und Vorhersagen
Die unterschiedlichen Stufen des Verstehens machen eins in meinen Augen ganz deutlich: Je tiefer das Verständnis ist, um so mehr kann man damit anfangen. Die ganz simple Honig-Analogie ist nahezu nutzlos, weil sie sofort zu Widersprüchen führt, wenn man sie weiterdenkt (Warum stoppen nicht alle Teilchen im Honig?), aber immerhin ermöglicht es einem, eine Idee zu haben, was die PhysikerInnen mit dem Higgs überhaupt bezwecken.
Diesen Aspekt versteht man auf der nächsten Ebene besser, und kann dann zumindest folgern, dass tatsächlich alle Teilchen masselos sein müssen. Auf den weiteren Ebenen versteht man dann auch, dass die Masse direkt mit der Stärke der Wechselwirkung mit dem Higgsfeld zusammenhängt, man versteht dann (mathematisch), wie einzelne Teile des Higgsfeldes von anderen Teilchen “gefressen” werden und so weiter. Auf der letzten Ebene angekommen kann man dann vielleicht sogar neue Theorien ableiten für den Fall, dass das gefundene Teilchen doch nicht die erwarteten Eigenschaften hat.
Was wir im Kopf haben, ist immer ein Modell der Wirklichkeit, ein Abbild dessen, was in der realen Welt passiert. (Ich stelle mich hier der Einfachheit halber auf den Standpunkt, dass es eine solche “reale Welt” wirklich gibt.) Je besser wir etwas verstehen, desto genauer ist dieses Abbild der realen Welt, und desto besser können wir vorhersagen, was in der realen Welt passieren wird, indem wir die Objekte in unserer Vorstellung manipulieren.
“Verstehen” hat deswegen immer etwas mit “vorhersagen” zu tun – je tiefer das Verständnis, desto besser kann ich bestimmte Aspekte der Theorie (und damit der Wirklichkeit) vorhersagen. Das gilt nicht nur in der Physik, sondern auch in anderen Wissenschaften, selbst in solchen, in denen man zunächst erwarten könnte, dass man dort nichts vorhersagen kann, weil sie sich mit der Vergangenheit beschäftigen, beispielsweise der Geschichtswissenschaft oder der Paläontologie. Obwohl die Dinosaurier (bis auf die Vögel natürlich) ausgestorben sind, können wir die Evolution der Dinos verstehen, und das erlaubt uns, gewisse Vorhersagen zu machen. Als die ersten Dinosaurier mit Federn entdeckt wurden, war das zwar eine Sensation, aber für viele auch eine Bestätigung dessen, was sie lange erwartet hatten. Und wir verstehen die Evolution der Dinos gut genug, dass die meisten neuen Fossilienfunde zwar spannend, aber nicht vollkommen überraschend sind, sondern sich gut in unser Wissen einfügen.
Verstehen ist also immer etwas Operatives – ich verstehe etwas, wenn ich mir vorstellen kann, wie dieses etwas sich in gewissen Situationen verhalten wird. Ein oberflächliches Verständnis beschränkt sich auf ein bloßes Nachvollziehen von Gedanken, aber je tiefer das Verständnis wird, desto mehr kann ich damit anfangen und desto besser kann ich vorhersagen, was unter bestimmten Bedingungen passieren wird.
Kann man also das Higgsteilchen verstehen?
Das kommt anscheinend ganz darauf an, auf welchem Niveau sich dieses “Verstehen” abspielen soll – ein gewisses Grundverständnis kann vermutlich fast jeder gewinnen, auf mathematisch tiefer Ebene dürften es tatsächlich nur sehr wenige Menschen sein, die das Higgsteilchen wirklich verstehen. Und angesichts der Komplexität der Theorie ist es nicht ausgeschlossen, das morgen irgend eine schlaue Physikerin eine Konsequenz der Theorie berechnet, an die bisher noch niemand gedacht hat – dann müsste man sagen, dass niemand das Higgsteilchen vollkommen versteht.
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