Lieber Herr Wagner,
in Ihrer heutigen Bildkolumne lesen wir, dass Sie der (vermutlichen) Entdeckung des Higgsteilchens so gar nichts Positives abgewinnen können. Schade eigentlich, dass Ihnen das alles nur auf die Nerven geht. Vielleicht kann ich Ihnen ja ein bisschen zeigen, dass das mit dem Higgsteilchen gar nicht so nervig ist, wie Sie denken.
Sie schreiben:
Dieses Teilchen hätte das Universum zu einer Masse gemacht.
Nun ja, da haben Sie ein bisschen etwas missverstanden. Diese Teilchen hat nicht “das Universum zu einer Masse gemacht” (seit wann ist denn das Universum eine Masse?). Nein, es verleiht aller Materie ihre Masse. Dass Atome und Teilchen (und damit auch wir) Masse haben, liegt am Higgs. Ohne Higgs gäbe es also keine Masse und damit auch keine Materie, wie wir sie kennen.
Kein Mensch versteht das.
Erstmal vielen Dank für diese nette, kleine Beleidigung – bisher dachte ich ja, dass ich auch als Physiker zur Gruppe der Menschen dazugehöre.
Aber vermutlich meinen Sie einfach nur “kein Durchschnittsmensch” – und wir Physiker gehören da einfach nicht dazu, wir sind ja etwas ganz besonderes.
Echt jetzt? Natürlich kann man nicht erwarten, dass ein Krankenpfleger oder eine Bankangestellte die Feinheiten der Higgs-Theorie nachrechnen kann – warum auch? Genauso kann man auch nicht erwarten, dass ein Physiker wie ich die Feinheiten des Anlegens einer Braunüle versteht oder weiß, wie man korrekt die Tilgung eines Darlehens berechnet. Experten darf es hoffentlich trotzdem auch in Ihrer Welt geben – und Physiker kennen sich eben mit Atomen und Higgsteilchen aus statt mit Druckverbänden und Aktienkursen. Jeder ist irgendwo Experte und kein “Durchschnittsmensch”, jeder ist etwas besonderes.
Ein bisschen aber kann und darf jeder verstehen, was das Higgsteilchen ist und warum es so wichtig ist – genauso wie es auch ganz sinnvoll ist, zumindest eine Idee zu haben, warum mir der Krankenpfleger gerade in die Haut bohrt oder was “Tilgung” überhaupt bedeutet. Falls Sie es doch mal versuchen wollen, schauen Sie doch einfach mal hier oder hier.
Wie hilft mir das auf Erden, dass ich aus Atomstaub bin?
Wie hilft es mir auf Erden zu wissen, wer Cäsar ermordet oder die Pyramiden erbaut hat oder was in Goethes Faust oder Schillers Glocke passiert?
Die meisten Menschen wollen wissen, was ihr Platz in der Welt und im Universum ist und wie alles so geworden ist. Dazu gehört vielleicht auch ein ganz klein wenig die Kenntnis unserer Geschichte (zu der auch Cäsar und die Pyramiden gehören) oder auch die Kenntnis unserer Literatur, die viele unserer Denker beeinflusst hat.
Und genauso gehört dazu, dass die Atome in unserem Körper zu einem großen Teil einmal im Inneren eines Sterns zusammengebacken wurden und dann in einer gigantischen Explosion ins All geschleudert wurden. Das ist zwar vielleicht ein ganz klein wenig komplizierter als die Idee, dass wir nur ein bisschen Lehm sind, dem Leben eingehaucht wurde, ist aber auch unglaublich viel phantastischer und großartiger.
Auch das Higgsteilchen ist ein wichtiger Bestandteil unserer Antwort auf diese Frage, wie unser Universum funktioniert . Man braucht vielleicht ein ganz klein wenig Mühe, um zu verstehen, was das Higgsteilchen ist. Aber ganz ehrlich, als Sie das erste Mal die Abseitsregel im Fußball kennengelernt haben oder versucht haben zu verstehen, was denn eigentlich ein Euro-Rettungsschirm ist, hat Sie das vermutlich auch Mühe gekostet.
Und auch ganz konkret bringt es Ihnen etwas, dass wir über Atome Bescheid wissen: Haben Sie schon mal in einem Computertomographen gelegen, damit Ihr Arzt ein Bild Ihres Körperinneren machen konnte? Oder kennen Sie jemanden, der Krebs hatte und eine Strahlentherapie bekam? Benutzen Sie gelegentlich Computer oder hören vielleicht Musik von einer CD (oder gar einem MP3-Player)? Alle diese Dinge würde es nicht geben, wenn wir nicht wüssten, dass alles aus Atomen besteht.
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