Die Idee, dass Bonobos sich “selbst gezähmt” haben – in dem Sinne, dass sie evolutionär auf verringerte Aggressivität hin selektiert wurde – ist zur Zeit eine Hypothese. Man könnte sie dadurch stützen, dass man die Genexpression der Gene untersucht, die für aggressives Verhalten zuständig sind, oder dass man nachweist, dass die morphologischen Veränderungen bei den Bonobos tatsächlich an die verringerte Aggressivität gekoppelt sind, so wie es ja anscheinend bei den Haustieren und gezähmten Füchsen der Fall ist.
Aber auch wenn es zur Zeit nur eine – plausible – Hypothese ist, so kann man natürlich doch überlegen, wie die Evolution hin zum weniger aggressiven Bonobo verlaufen ist. (Theoretisch ist auch ein umgekehrtes Szenario denkbar, bei dem der Ur-Schimpanse friedlich war und dann die Schimpansen auf aggressiveres Verhalten hin selektiert wurden, dies ist aber unwahrscheinlich, weil die veränderte Schädelform des Bonobos eine Eigenart dieses Spezies (Synapomorphie) ist, die von der der Schimpansen und Gorillas abweicht. Entsprechend kann man annehmen, dass der gemeinsame Vorfahr von Gorilla, Schimpanse und Bonobo einen schimpansen-artigen Schädel hatte.)
Einen Hinweis darauf gibt die Tatsache, dass Bonobos auch in freier Wildbahn weniger stark um Futter konkurrieren und dass gerade Bonobo-Weibchen häufig gemeinsam auf Nahrungssuche gehen, während Schimpansen-Weibchen oft allein unterwegs sind. Das könnte bedeuten, dass im Lebensraum der Bonobos südlich des Kongo mehr Nahrung für die Bonobos zur Verfügung steht, beispielsweise weil sie nicht in Futterkonkurrenz mit Gorillas stehen und so mehr bodenwachsende Pflanzen zur Verfügung haben.
Man kann sich damit folgendes Szenario ausmalen: Durch das bessere Nahrungsangebot ist es für Bonobo-Weibchen günstig, sich in innerhalb einer Gruppe zu Trupps zusammenzuschließen, die über längere Zeit stabil bleiben (während Schimpansen oft nur für kurze Zeit Trupps bilden, die auch meist kleiner sind). Dadurch konnten sich Bonobo-Weibchen gegenseitig besser unterstützen, wenn beispielsweise eines von ihnen von einem Männchen angegriffen oder bedrängt wurde. Für die Männchen war es deshalb evolutionär günstiger, nicht zu aggressiv gegenüber den Weibchen zu sein. Man hat Bonobo-Weibchen beobachtet, die in der Gruppe ein Männchen getötet haben, das dürfte der evolutionären Fitness des Männchens sicher geschadet haben. (Soviel dann auch zur absolut friedlichen Bonobo-Gesellschaft – Tiere zu idealisieren ist selten hilfreich.)
Umgekehrt wurden Männchen, die weniger aggressiv und eher spielerisch waren, von den Bonobo-Weibchen eher geduldet und konnten so ihre Fitness steigern. Insgesamt könnte das zu einer Selektion auf weniger Aggression bei den Männchen geführt haben. (Bei Säugetieren sind es ja meist die Männchen, an denen die Selektion stärker zuschlägt – nahezu jedes erwachsene Weibchen bekommt eine Chance auf Nachwuchs (ja, es gibt Ausnahmen), aber bei weitem nicht jedes erwachsene Männchen.) Der Effekt könnte sich dann selbst verstärkt haben – in einer weniger aggressiven Gesellschaft fällt auch leicht aggressives Verhalten stark auf und kann zu einem Nachteil werden. Diese Rückkopplung könnte dann zu einer sehr aggressionsarmen Kultur geführt haben.
Zugegebenermaßen ist das natürlich nur ein Szenario, keine bewiesene Theorie. Trotzdem ist es durchaus plausibel und gerade wegen seiner Analogie zur Haustierwerdung interessant – auch da dürfte es ja so gewesen sein, dass zunächst Wölfe dann in der Nähe von Menschengesellschaften geduldet wurden, wenn sie sich möglichst friedlich verhielten, und dass Wölfe, die weniger Angst vor Menschen hatten, mehr Möglichkeiten hatten, sich von Nahrungsresten der Menschen zu ernähren.
So weit, so interessant. Ob es jetzt aber sinnvoll ist, daraus Lektionen für unsere Gesellschaft abzuleiten (sei es jetzt über die Überlegenheit eines Matriarchats oder den positiven Einfluss von “freier Liebe”), scheint mir sehr fraglich. Zunächst sind diese Bilder der Bonobo-Gesellschaft ja meist etwas arg idealisiert. Wichtiger ist aber, dass das Szenario evolutionär ist und auf echten physiologischen Veränderungen beruht. Bonobos sind nicht einfach Schimpansen, die eines Tages beschlossen haben, firedlich zusammenzuleben. Wenn wir uns (oder unsere Kinder) nicht alle gen-manipulieren lassen wollen, haben wir wohl schlechte Karten, das einfach nachzuvollziehen (mal ganz davon abgesehen, dass ein verringertes Volumen des Gehirns auch nicht soo erstrebenswert erscheint). Die Tatsache, dass wir trotz der Vielzahl menschlicher Gesellschaften keine kennen, die der der Bonobos wirklich ähnelt, spricht auch nicht gerade dafür, dass die Bonobo-Gesellschaft wirklich für uns geeignet ist.
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