Wissenschaft kann Angst auslösen, weil sie uns Antworten auf die Grundfragen des Lebens liefert, die uns nicht unbedingt gefallen. Schauen wir uns als letztes die vierte Kantsche Frage an:
Was ist der Mensch?
Der Mensch ist ein Zufallsprodukt der Evolution, der von niemandem geplant wurde und dem im Universum keine besondere Rolle zukommt. Das menschliche Bewusstsein ist vermutlich ein Epiphänomen der komplexen Informationsverarbeitung, das von uns als kontinuierlich wahrgenommene Ich ist vermutlich nur eine Fiktion dieses Verarbeitungsprozesses.
Diese Antwort der Wissenschaft macht zunächst Angst, weil sie uns das Gefühl nimmt, etwas “Besonderes” zu sein – sind wir “nur” eine Ansammlung von unzähligen Molekülen und elektrischen Feldern in unglaublich komplexer Anordnung, nicht mehr? Heißt das, wir sind genau so wertvoll oder wertlos wie ein beliebiger Stein oder eine andere Ansammlung von Materie? Und wenn wir tatsächlich ein Zufallsprodukt der Evolution sind (und – was sehr plausibel ist – die Evolution intelligenter Lebewesen auch nicht besonders wahrscheinlich ist), dann ist unser Dasein auf Erden und alles, was uns wichtig ist, “in Wahrheit” vollkommen bedeutungslos.
Und die Tatsache, dass wir (nach allem, was die Wissenschaft uns sagt) keine unsterbliche “Seele” haben (falls ihr an eine Seele glaubt und dem Dualismus anhängt, guckt ihr hier) macht alles natürlich nur noch schlimmer. Ist alles nicht vollkommen sinnlos, wenn alles irgendwann einfach vorbei ist – nicht nur für uns selbst, sondern wenn die gesamte Menschen mit all ihrem Wissen, Fühlen, Denken irgendwann spurlos in den Tiefen der Unendlichkeit verschwindet?
“All those moments will be lost in time, like tears in rain.”
Diese beiden eng verwandten Ängste dürften uns allen so vertraut sein, dass ich dazu wohl nicht viel Erklärendes schreiben muss – die Angst vor dem Tod ist vermutlich die fundamentalste Angst, die wir kennen, und die Angst vor der Bedeutungslosigkeit kannte schon Achilles, als er sich entschloss, nach Troja aufzubrechen, um Ruhm auf Kosten eines langen Lebens zu erwerben.
Man mag jetzt einwenden, dass dies eben Urängste des Menschen sind, die speziell mit Wissenschaft nicht so viel zu tun haben. Ich denke aber, dass die Angst vor der Wissenschaft auch in diesen fundamentalen Ängsten wurzelt, und zwar genau deswegen, weil wir die Wissenschaft als ein so mächtiges Werkzeug erleben, dass auf unglaublich viele Fragen zutreffende Antworten liefert. Das gelingt dank eines konsequent materialistischen Weltbilds, bei dem wir davon ausgehen, dass alles, was sich untersuchen lässt, natürliche Ursachen innerhalb unseres Universums hat. Konnte man vor 200 Jahren noch annehmen, dass es eine fundamentale “Lebenskraft” gibt, so wissen wir heute, dass das nicht der Fall ist – Leben ist ein emergentes Phänomen der Biochemie. Vor 200 Jahren wäre dieser Gedanke den meisten Menschen fremd gewesen, heute empfinden wir ihn als normal. Ähnliches gilt mit ziemlicher Sicherheit auch für unser Bewusstsein – viel Platz für eine “unsterbliche Seele” lässt die Wissenschaft nicht (siehe auch den Link oben).
Hinzu kommt, dass die Wissenschaft zwar aus Einzeldisziplinen besteht, dass sie aber dennoch ein geschlossenes Gesamtgebilde darstellt. Die gleiche wissenschaftliche Logik, mit der man Halbleiter konstruieren kann, führt auch zu der Schlussfolgerung, dass es keine “Lebenskraft” gibt – und in letzter Konsequenz bedeutet das, dass ich jedes Mal, wenn ich meinen Computer anschalte, meine eigene Vergänglichkeit eingestehen muss. Viele der Ängste und Aspekte, die ich in den anderen drei Teilen dieser kleinen Serie angesprochen habe, wurzeln vermutlich in dieser grundlegenden Angst.
Bei den anderen Ängsten habe ich versucht, die Antwort der Wissenschaft ins Positive zu verkehren. Was die Angst vor dem Tod angeht, wird mir dies, wie ich fürchte, nicht gelingen, dazu ist sie zu tief in uns verwurzelt (was man auch evolutionär verstehen kann – ein gesunder Selbsterhaltungstrieb ist sicherlich ein Selektionsvorteil).
Aber einen Versuch ist es trotzdem wert, diese Ängste zu hinterfragen. Warum haben wir eigentlich Angst davor, in Hundert Jahren nicht zu existieren, finden es aber völlig normal, dass wir zur Zeit gerade nicht auf Alpha Centauri existieren? Wenn es wirklich die Begrenztheit unseres Lebens ist, die uns ängstigt, warum empfinden wir dann die räumliche Begrenztheit so anders (und weniger verstörend) als die zeitliche Begrenztheit? Warum ist es für die Bedeutung unseres Lebens wichtig, dass uns auch in 1000 Jahren noch jemand kennt, aber nicht so wichtig, ob uns überall auf der Welt jemand kennt?
Natürlich liegt das daran, dass wir – allen wissenschaftlichen Gegenargumenten zum Trotz – Raum und Zeit als etwas fundamental Unterschiedliches wahrnehmen. Wir planen in der Zeit voraus – auch das wieder wegen unseres Selbsterhaltungstriebs – weil wir das Gefühl haben, uns durch die Zeit zu bewegen. Vermutlich aber ist auch das nur eine Illusion, die auf der Annahme beruht, dass unser Ich eine fortdauernde Identität besitzt.
Ob das wirklich so ist, erscheint allerdings fraglich. Unser “Ich” verändert sich ständig, und auch wenn eine nahtlose Kette von “Ichs” den MartinB von vor 20 Jahren mit dem von heute verbindet, so sind beide doch deutlich verschiedene Wesen, die zwar viele Gemeinsamkeiten haben, aber auch viele Unterschiede. Letztlich sterben wir in jedem Moment, und in jedem Moment wird ein anderes “Ich” geboren, das mit dem vorigen zwar viele Gemeinsamkeiten hat, mit ihm aber nie identisch sein kann.
Dieser Aspekt wird von den Anhängern der Idee eines “Lebens nach dem Tod” gern ignoriert – welches “Ich” soll denn im Jenseits wiederbelebt werden? Der Mensch von heute? Der, der ihr kurz vor eurem Tod sein werdet? Oder keiner von denen, sondern nur eine Art “Essenz” aus all euren unterschiedlichen Ichs? Wenn das aber so ist, stirbt dann der Mensch, der ihr jetzt gerade seid, nicht doch unwiderruflich, und nur eine veränderte Kopie existiert weiter? Und heißt es nicht umgekehrt, dass am Ende eben nichts ungewöhnliches passiert, sondern nur etwas, das wir eigentlich – ohne uns dessen bewusst zu sein – täglich erleben?
Und die Bedeutungslosigkeit? Ist es nicht schrecklich, dass wir dem Universum egal und “nur” eine Ansammlung von Molekülen sind? Aber auch hier gilt, dass die Dinge sich vielleicht anders darstellen, wenn man sie etwas genauer anschaut. Was ist denn überhaupt “Bedeutung”? Woher kommt sie? Ist ein Gemälde von van Gogh nicht auch nur eine Ansammlung von Farbstoffmolekülen auf einer Leinwand und deswegen nicht mehr als ein beliebiger Haufen Farbkleckse?
Wenn ihr eine “universelle” Bedeutung sucht, dann mag das so sein. Aber Bedeutung entsteht als Bedeutung für uns – und ist auch nicht für alle Menschen dieselbe; was dem einen als grausamer Lärm erscheint, empfindet der andere als coole Mucke. Das Universum kennt keine Bedeutung in diesem Sinne – Bedeutung ist das, was wir daraus machen.
Diesen Gedanken wiederum darf man als tröstlich empfinden. Wenn es keine universelle Ethik gibt (wie wir im zweiten Teil gesehen haben) und auch keine universelle Bedeutung, dann haben wir Menschen die Freiheit, unserem Leben selbst eine Bedeutung zu geben. Räumlich und zeitlich mögen wir endlich sein – aber das macht uns auch einzigartig und kostbar. Welche Bedeutung wir für uns in unserer kleinen Nische des Universums schaffen, liegt in unserer Hand.
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