Heißt das in letzter Konsequenz, dass wir eigentlich gar nicht auf unsere Entscheidungen – wie schwierig sie auch sein mochten – stolz sein können, weil sie entweder determiniert, oder zufällig, oder durch göttlichen Funken bestimmt sind? Ja, vielleicht. Aber so ungewöhnlich ist dieser Gedanke auch nicht: Kann jemand, der physiologisch besonders gut zum Marathonlauf geeignet ist, wirklich darauf “stolz” sein? Oder jemand, der eine hohe Intelligenz besitzt und deswegen eine bahnbrechende Entdeckung macht? Diese Eigenschaften sind ja nicht sein Verdienst. Warum sollte also die Willensstärke unseres Sportlers im Beispiel anders gelagert sein?
“Und wie ist es mit der Verantwortung? Können wir einen Verbrecher dann nicht mehr bestrafen, weil er ja gar nicht anders handeln konnte?” Wenn man Strafe als Rache sieht, dann wohl nicht – aber die Strafe soll ja zur Umerziehung dieses Verbrechers und zur Abschreckung anderer dienen, und beides sind kausale Mechanismen.
Letztlich gehen diese Einwände aber ohnehin am Kern des Problems vorbei – dass uns die Konsequenzen einer Aussage nicht gefallen, sagt nichts über den Wahrheitswert dieser Aussage aus.
Fazit: Wie der Wille “frei” (im Sinne von “nicht determiniert”) und dennoch “mein Wille” sein soll, leuchtet mir nicht ein. Da es aber ja durchaus kluge Leute gibt, die diesen Standpunkt innehaben, muss es anscheinend irgend einer Punkt geben, den ich in der obigen Argumentation übersehe. Vielleicht kann mir ja jemand von euch auf die Sprünge helfen?
Drei Nachbemerkungen:
1. Da wir keine zwei Kopien des Universums nebeneinander legen können, kann man versuchen zu argumentieren, dass die Frage der Willensfreiheit experimentell nicht beantwortbar ist – ob ich mich in exakt derselben Situation wieder genauso entscheiden würde, lässt sich nicht nachweisen, weil wir exakt dieselbe Situation nie herstellen können. Bisher habe ich das auch gern so gedacht und gesagt – nach längerem Nachdenken glaube ich aber, dass das kein gutes Argument ist, weil man sich “derselben Situation” zumindest beliebig gut annähern kann – man kann sich beispielsweise vorstellen, dass man ein Experiment mit derselben Versuchsperson mehrfach wiederholt und diese dabei zwischendurch blitzdingst, so dass sie ihr Gedächtnis verliert. Exakt wiederholen können wir ja auch andere Experimente nie.
2. Das ganze Argument ist übrigens vollkommen unabhängig von der Frage, ob ihr Materialist oder Dualist seid: Mein Charakter ist durch irgendetwas definiert – ob das das Verhalten meiner Neuronen ist oder das des Bewusstseinsbildenden Äthers in irgendeiner Seelendimension ist vollkommen unerheblich. Wichtig ist nur, dass ihr Entscheidungen im Einklang mit eurem Charakter trefft, und nicht gegen ihn – wie solltet ihr auch? Ich sehe jedenfalls nicht, wie die Existenz einer außerweltlichen Seele das Problem lösen soll – es sei denn, dort gilt eine Logik, nach der es neben “zufällig” und “determiniert” und “göttlich eingegeben” noch eine vierte Möglichkeit gibt.
3. Determinismus in diesem Sinne heißt nicht notwendigerweise, dass bereits beim Urknall feststand, ob ihr heute lieber Kaffee oder Tee zum Frühstück wolltet. Immerhin sorgt die Quantenmechanik ja für einen inhärenten Zufall in unserem Universum. Diesen Zufall könnt ihr aber nicht dazu verwenden, um irgendwie einen freien Willen für euch zu beanspruchen, denn der sollte nicht auf Zufall beruhen.
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