Ein anderes Beispiel sticht in meinen Augen ganz besonders heraus, weil es Implikationen hat, die im Buch nicht mal angedeutet werden, auch wenn sie eigentlich offensichtlich sind: Im Sudan leben die Stämme der Dinka und Nuer. Bis vor kurzem war es bei ihnen Tradition, den Kindern die bleibenden Schneidezähne (und zum Teil auch die Eckzähne) zu ziehen, sobald diese auftauchen. Dadurch wird das Gesicht verformt, das Sprechen wird schwieriger und auch das Abbeißen von Nahrung wird dadurch nicht gerade vereinfacht. (Eine kurze google-Suche zeigt, dass Personen, die z.B. in die USA einwandern, sich häufig Implantate einsetzen lassen, um besser klar zu kommen.) Die Praxis ist inzwischen übrigens verboten – ein Grund dafür war, dass es dadurch leichter wurde, Personen, die zu diesen Stämmen gehören, zu identifizieren – was bei den Völkermorden im Sudan weniger harmlos ist, als es klingt. (Quelle)
Die Dinka und Nuer rechtfertigten das Ziehen der Zähne mit dem erhöhten ästhetischen Wert. Es stellte auch ein wichtiges Initiationsritual dar und diente eben auch dazu, die Zugehörigkeit zu einem Stamm zu kennzeichnen.
Nun gut, es gibt viele seltsame Schönheitsideale und Rituale auf der Welt – aber wie ist man darauf verfallen, gerade die Schneidezähne zu ziehen? Man vermutet, dass vor langer Zeit eine Tetanus-Epidemie die Stämme heimgesucht hat. Dabei sorgt die Verkrampfung der Muskeln oft für eine Kieferklemme, so dass man den Mund nicht mehr öffnen kann. Entfernt man die Schneidezähne, so können erkrankte Personen noch Nahrung zu sich nehmen- die Maßnahme war also vielleicht einmal in gewissen Grenzen sinnvoll. Vorsorglich zog man während der Epidemie allen Kindern die Schneidezähne, für den Fall, dass sie erkranken würden. Doch nachdem die Epidemie schließlich abgeklungen war, war die Maßnahme eigentlich unsinnig geworden und man hatte viele Kinder umsonst malträtiert. Die kognitive Dissonanz sorgte dann dafür, dass eine andere Begründung gesucht wurde, warum es trotzdem gut und richtig war, die Schneidezähne zu ziehen. Und gerade weil dieser Eingriff so heftig ist und so schwerwiegende Konsequenzen hat, wird er von seinen Anhängern besonders heftig verteidigt.
Erinnert euch das Phänomen an etwas? Mich schon. Bei all den vielen Beispielen im Buch wird nämlich ein Thema vollkommen ausgeklammert – auch im Index findet sich das Stichwort “Religion” nicht wieder, obwohl man in religiösen Ritualen und Überlieferungen natürlich sehr viele Beispiele für die dargestellten Mechanismen wiederfinden kann. (Der sexuelle Missbrauch durch katholische Priester und die entsprechenden Rechtfertigungen dazu werden einmal in einem Zitat und in einer Fußnote erwähnt, das ist alles. (Und in der Fußnote geht es um eine ungerechtfertigte Anschuldigung.)) Ob das nun daran liegt, dass die Autorinnen selbst religiös verwurzelt sind oder ob sie sich den Ärger mit Religionsanhängern in den USA ersparen wollten, kann ich nicht sagen. Trotz dieses kleinen Mankos ist das Buch aber unbedingt lesenswert.
PS: Ja, eine der Autorinnen ist männlich – ist halt ein generisches Femininum.
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