Wenn man über soziale Gerechtigkeit debattiert, dann fällt häufig der Begriff “Privileg” (insbesondere im Englischen). Laut Wikipedia ist ein “Privileg” ein Vorrecht, das einer einzelnen Person oder Personengruppe zugestanden wird. Das Besondere an sozialen Privilegien, die einem die Gesellschaft spendiert, ist, dass man sie oft nicht bemerkt. Statt hier eine lange theoretiche Debatte dazu anzuzetteln (für die ich eh nicht kompetent genug bin – so als theoretischer Physiker), hier lieber zweieinhalb Anekdoten, bei denen ich ausnahmsweise selbst gemerkt habe, dass ich ein (zunächst unbewusstes) Privileg genieße. Beide Geschichten sind harmlos, alltäglich, niemand ist zu schaden gekommen oder wurde durch mein Privileg direkt benachteiligt oder verletzt – aber trotzdem wurde mir bewusst, wie viele Dinge man (ich) gern als selbstverständlich annimmt.
Disclaimer: Was hier folgt sind – siehe den Titel des Posts – Anekdoten. Anekdoten allein taugen nicht, um ein Phänomen zu beweisen, sondern allenfalls, um es zu illustrieren. Entsprechend ist dieser text kein Versuch, die Existenz von unverdienten Privilegien in unserer Gesellschaft zu beweisen – das überlasse ich den Soziologinnen, die können das besser.
Das erste Beispiel ist besonders alltäglich: Es war Samstag vormittag, ich war einkaufen. Nachdem ich im Supermarkt alles eingesackt hatte, was ich brauchte, musste ich noch eine Zeitung und ein bisschen Kleinkram im Schreibwarenladen kaufen. Der ist bei uns noch im selben Gebäude in einem Seitenraum, der ziemlich eng ist. Man hat also letztlich zwei Möglichkeiten: Entweder man quetscht den Wagen mit den Einkäufen durch die engen Gänge des Schreibwarenladens oder man lässt ihn Vorn stehen, wo man ihn aber nicht immer im Blick hat. (Ja, man könnte natürlich auch erst im Schreibwarenladen einkaufen, wenn der Wagen noch leer ist, hatte ich aber nicht dran gedacht.) Da ich ja ein bequemer Mensch bin, ließ ich meinen Wagen einfach stehen und dachte “Wird schon keiner was klauen, und wenn doch, wär’s auch nicht so schlimm. Und irgendwo zeigst du ja auch, dass du anderen Menschen vertraust, dass sie dir nicht einfach etwas aus dem Wagen klauen.” Und für einen kleinen Moment freute ich mich an diesem Gedanken und dann – Autsch!
Na klar, ich habe ein zwar nicht gigantisches, aber durchaus komfortables und regelmäßiges Gehalt als Wissenschaftlicher Mitarbeiter; wenn mir jemand ein paar Sachen aus dem Einkaufswagen klaut, ist das nicht so schlimm. Wäre ich Rentner mit Grundsicherung oder Hartz-IV-Empfänger, dann sähe die Sache sicher anders aus. Ich muss mir über die Möglichkeit, dass jemand etwas aus meinem Wagen greift, keine großen Gedanken machen, denn für mich wäre es nicht schlimm. Ein Privileg, das ich als wohlhabender Mensch (in meiner finanziellen Einstufung als jemand, der als Kind etwas andere Verhältnisse gewohnt war…) genießen kann. Und besagter Hartz-IV-Empfänger, der das gleiche Problem hat wie ich, sieht vielleicht meinen Wagen und denkt “Hmm, der hat’s gut, der muss sich darüber keine Gedanken machen.”
Findet ihr das Beispiel trivial? Wenn es euch beruhigt, ich auch.
Findet ihr es deswegen unnötig, über so etwas nachzudenken? Ich nicht. Denn wenn ich es hier fast nicht gemerkt hätte, wie oft merke ich es dann tatsächlich nicht, vielleicht auch dann, wenn die Konsequenzen für andere stärker sind?
Man könnte hier natürlich einwenden, dass es sich hier nicht wirklich um ein Privileg handelt – immerhin habe ich mir mein komfortables Gehalt ja durch Schule, Studium und fleißige Arbeit verdient. Stimmt schon – aber hier spielen dann andere Privilegien mit hinein. Wäre es mir auch so leicht gefallen, dieselbe Karriere zu machen, wenn ich z.B. eine Tochter von türkischen Gastarbeitern wäre?
Das zweite (undzweieinhalbste) Beispiel gab es letzte Woche. Da war ich ja zur Konferenz in Barcelona. (Nebenbei bemerkt: Wenn von 14 plenary speakers kein einziger weiblich und keiner unter 50 Jahren ist (im wesentlichen alte weiße – bzw. “gelbe” – Männer), dann macht man als Konferenzorganisator etwas falsch, insbesondere, wenn man dann noch darüber redet, wie wichtig es ist, dass die Community wachsen soll. Diversity – schon mal gehört?)
In Barcelona war noch Hochsommer (hier ja auch, aber da war es noch ein wenig wärmer, mit Tagestemperaturen so um die 30 Grad). Entsprechend habe ich auf eine Krawatte verzichtet, meist auch kein Jackett getragen (außer in den ganz eisig klimatisierten Räumen) und hatte auch ein paar bequeme Schuhe an, weil ich viel zu Fuß unterwegs war. So sehr kommt es ja auf die Kleidung auch nicht an, oder?
Dann fielen mir aber zwei Dinge auf (die zusammengenommen dieses Beispiel zu Nummer 2 und 2,5 machen, weil sie eng zusammenhängen): Zum einen stellte ich fest, dass diejenigen Konferenzteilnehmer, die nach Hautfarbe und Namen zu urteilen aus Indien und aus arabischen Ländern stammten, alle besonders gut gekleidet waren: Immer im Anzug, immer mit Krawatte, immer mit passenden Schuhen dazu. Und dann sah ich, wie eine der deutschen Teilnehmerinnen nach der letzten Session eines Tages ihre Schuhe gegen einen Satz bequemere tauschte. Und ich ertappte mich bei dem Gedanken “Gut, dass ich mir den Stress mit Kleidung und Schuhen nicht mache.”
Wieder Autsch! Ich muss mir diesen Stress auch nicht machen. Immerhin gehöre ich letztlich auch zur Gruppe der “alten weißen Männer” (naja, soo alt noch nicht). Die Wahrscheinlichkeit, dass man mir ein leichtes Abweichen von Kleidernormen nachsieht, ist wesentlich höher als bei einer Frau oder bei jemandem mit dunkler Hautfarbe.
Und klar, auch hier kann man einwenden, dass ich vielleicht einem confirmation bias unterliege (weil mir die anders gekleideten Personen dunklerer Hautfarbe nicht so stark auffielen und weil nicht alle Frauen sich solche Mühe gemacht haben) oder dass es eine Ausprägung der jeweiligen Kultur ist, die dazu führt, dass andere die Kleidervorschriften weniger locker nehmen als ich. Auf der anderen Seite ist aber zumindest kaum zu bestreiten, dass es für eine Frau wesentlich schwerer ist, bequeme Schuhe zu einem business outfit zu finden als für einen Mann. Und wie gesagt – es geht hier um Anekdoten, die meine (Nicht-)Wahrnehmung von Privilegien illustrieren sollen, nicht um einen Beweis für die Existenz von Privilegien.
Tja, beides sehr harmlose und alltägliche Beispiele – habe ich ja vorher gesagt. Aber gerade das macht sie – so trivial sie einerseits auch sind – auch interessant: Privilegien ziehen sich durch unsere Gesellschaft,und zwar in einer Weise, dass wir es meist nicht einmal merken (vor zwei Jahren ist mir bei derselben Konferenz weder das Kleidungsproblem noch die tatsache, dass alle plenary speakers männlich waren, besonders aufgefallen). Für jeden Fall, den man bemerkt, gibt es vermutlich 10 oder 100 andere, die einem nicht auffallen (und bei denen man möglicherweise andere Leute direkt beeinträchtigt).
Noch ein wichtiger Hinweis: Jeder (und jede) ist in einiger Hinsicht privilegiert, in anderer aber nicht. Auch die transsexuelle verarmte schwarze Frau im Rollstuhl hat vielleicht ein Privileg auf Grund ihrer hohen Intelligenz oder Bildung, auch jemand wie ich ist vielleicht auf Grund des Aussehens (ich bin halt kein George Clooney) oder der Tatsache, dass ich dann doch keine Millionen auf dem Konto habe, gegenüber anderen unterprivilegiert. (Nein, ich sage das nicht, um rumzuheulen oder meine unbewusstes Einsetzen meiner Privilegien abzuschwächen, sondern um Klarheit zu schaffen – Privilegiertsein ist kein eindimensionales Kriterium. Aber ihr merkt schon, dass es mir nicht so leicht fällt, Aspekte zu finden, bei denen ich nicht privilegiert bin) Und natürlich kann auch bei männlichen Konferenzteilnehmern die Kleidung durchaus negativ auffallen (ich habe mal ne hellblaue Trainingsjacke mit Krawatte gesehen, grusel…). Als Angehöriger einer privilegierten Gruppe hat man es nur etwas leichter als andere.
Zum Abschluss noch ein paar Links zum weiterlesen:
Dass man es als Privilegierter leichter hat, erklärt sehr schön dieser Text. Hier eine weitere fast noch schönere Erklärung, was ein Privileg ist.
Und diese Liste enthält noch mehr Dinge, die man für selbstverständlich halten mag… (nicht bei allen bin ich mir sicher, ob man sie wirklich als Privileg im engeren Sinn bezeichnen kann, aber die Liste macht schon nachdenklich.)
Falls euch diese Links nicht wissenschaftlich genug sind, hier noch ein echter wissenschaftlicher Artikel zum Thema (leider nur mit Uni-account zugänglich, aber wenn ihr ihn lesen wollt, kennt ihr ja vielleicht irgendeinen freundlichen Blogger mit so einem account…). Ein Absatz daraus passt besonders gut zum Thema hier und bildet ein gutes Schlusswort:
Privileged persons live in a distorted reality. This distortion is akin to the concept of denial in the treatment of persons with chemical dependency. The
denial serves to protect the chemically dependent person from the painful consequences of the truth. Examining the consequences of the truth and being accountable for the impact of one’s chemical dependency, or in this case privilege, are threatening, painful, and challenging experiences that few willingly seek. Being accountable for personal privilege means that the privileged are prepared to forego benefits and entitlements to which they have become accustomed and that they acknowledge their role in the potential oppression of others.[Grob übersetzt: Privilegierte Personen leben in einer verzerrten Realität. Diese Verzerrung ähnelt dem Konzept der Leugnung in der Behandlung von Drogensüchtigen. Die leugnung hilft, die drogenabhängige Person vor den schmerzhaften Konsequenzen der Wahrheit zu schützen. Die Konsequenzen dieser Wahrheit zu untersuchen und die Verantwortung für die Folgen der Drogenabhängigkeit, oder in diesem Fall des Privilegs, zu übernehmen, führt zu bedrohlichen, schmerzhaften und herausfordernen Erfahrungen die nur wenige freiwillig suchen. Die Verantwortung für persönliche Privilegien zu übernehmen bedeutet dass die Privilegierten dazu bereit sind, auf Vergünstigungen und Rechte zu verzichten, an die sie sich gewöhnt haben, und dass sie ihre Rolle in der möglichen Unterdrückung anderer anerkennen.]
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