Es ist also nicht unbedingt zwingend, dass sich im Grenzfall einer Theorie ein sauberer Übergang zu einer einfacheren Theorie ergibt.
Auch ansonsten erscheint es gar nicht so abwegig, dass eine fundamentale Theorie so komplex ist, dass sich eben keine wirklich gute effektive Theorie daraus ableiten lässt. Ein Beispiel dafür liefert wieder die Strömungsmechanik: Die Grundgleichungen der Strömungsmechanik, die Navier-Stokes-Gleichungen, sind für sich genommen gar nicht so sehr komplex, aber sie führen zu sehr komplexen Phänomenen wie eben der Turbulenz. Bisher ist es nicht wirklich gelungen, eine effektive Theorie zu finden, mit der sich Turbulenzphänomene zum Beispiel um ein Flugzeug herum gut beschreiben lassen, ohne dass man die Navier-Stokes-Gleichungen auf sehr kleiner Längenskala löst. Es gibt jede Menge Turbulenzmodelle, mit denen man in einigermaßen guter Näherung rechnen kann, aber weder sind diese Modelle besonders einfach noch gibt es eins, dass immer passt. Was wäre, wenn die fundamentalen Gesetze der Physik genauso wären? (Diese Idee ist übrigens nicht von mir, sondern von dem Mathematiker Achi Brandt, mit dem ich darüber vor ewig langer Zeit mal diskutiert habe.)
PhysikerInnen gehen meist davon aus, dass die fundamentalen Gesetze in irgendeiner Weise “einfach” sind (wobei man sich natürlich schon streiten kann, ob so etwas wie die QFT einfach im eigentlichen Sinne ist). Aber selbst wenn das stimmt, warum sollten sich dann aus so einer Theorie auch “einfache” effektive Theorien ergeben?
Auf diese Frage fallen mir im Moment vier mögliche Antworten ein.
1. Glück Es gibt keinen besonderen Grund, warum das so ist – wir haben einfach Glück gehabt, dass wir in einem Universum leben, wo die effektiven Theorien hinreichend einfach sind.
2. Das anthropische Prinzip Vielleicht ist Leben (und insbesondere intelligentes Leben) nur in einem solchen Universum möglich, in dem die effektiven Theorien einfach sind. Intelligente Lebewesen müssen ja das verhalten ihrer Umwelt einigermaßen gut vorhersagen können – in einem Universum, in dem die effektive Theorie unglaublich komplex ist, wäre dann vielleicht entweder die Entwicklung von Intelligenz gar nicht möglich (weil gezielte Vorhersagen so schwierig sind, dass es keinen evolutionären Weg gibt, unter dem sich ein Wesen entwickeln könnte, das dazu fähig ist), oder Leben selbst wäre nicht möglich, weil einfache Reiz-Reaktions-Mechanismen in einer solchen Welt nicht funktionieren könnten.
3. Evolutionäre Erkenntnistheorie Man kann das Argument des anthropischen Prinzips aber auch umdrehen: Ob etwas “einfach” ist, ist ja keine objektiv entscheidbare Frage. Vielleicht würde einem Lebewesen, das in einer turbulenten Gaswolke wohnt, unsere effektive klassische Physik mit starren Objekten und Massepunkten als unglaublich wirr oder kompliziert erscheinen. Würden wir uns ständig mit relativistischen Geschwindigkeiten bewegen, fänden wir vermutlich die spezielle RT ganz anschaulich und die Newtonsche Physik seltsam und kompliziert. (“Man soll Objekte immer weiter beschleunigen können, zu beliebigen Geschwindigkeiten? Wie absurd!”) Dass uns die klassische Physik anschaulich und einleuchtend erscheint, liegt eben daran, dass wir als Kinder eine naive Physikvorstellung entwickeln, die eben genau zu dieser effektiven Theorie passt.
Die letzten beiden Antworten sind allerdings auch nicht wirklich zufriedenstellend – sie liefern zwar jeweils ein Argument dafür, warum die klassische Physik einfach sein muss; warum es aber zwischen der klassischen Physik und z.B. dem Standardmodell noch durchaus sinnvolle Zwischenstufen (wie zum Beispiel die Quantenmechanik) gibt, die einfacher sind und die man verstehen kann, ohne die zu Grunde liegende Theorie zu kennen, ist nicht klar.
Wenn man etwas wissenschaftskritisch ist, dann mag einem noch eine vierte Antwort einfallen:
4. Unsere Theorien haben mit der Realität wenig zu tun. Das ist ein etwas postmoderner Gedanke: Physikalische Theorien sind menschliche Konstrukte, und die bauen wir so, wie es uns passt und stülpen sie dann der Welt quasi über. Wir passen zwar die Details unserer Theorien an die Messergebnisse an, aber die grundlegenden Konzepte, die wir verwenden, stammen von uns selbst und haben mit der Realität nichts zu tun. Für sehr plausibel halte ich diese Idee allerdings nicht, dafür ist die Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment schon erstaunlich gut. Es wäre schon seltsam, wenn man z.B. die makroskopische klassische Physik mit einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Konzepten beschreiben könnte. Man kann sich natürlich wieder Wesen aus Gas oder so vorstellen, deren klassische Physik keine Punktteilchen als fundamentale Objekte verwendet, sondern Strömungen oder Felder; aber auch wenn deren Formeln und Konzepte dann etwas anders aussehen würden, würden sie letztlich wohl doch zumindest mathematisch äquivalente Gleichungen verwenden müssen, um Strömungen oder Planetenbewegungen zu beschreiben. Und es ist schwer vorstellbar, dass man die klassische Physik sinnvoll ohne Konzepte wie “Energie” oder “Impuls” beschreiben kann; dazu sind die einfach zu tief in der Physik verankert.
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