Insgesamt gibt es also einen schwachen priming-Effekt durch das GG, aber keinen durch das SG.
Das Experiment ist allerdings in sofern problematisch, als die priming-Effekte durch die Verwendung der Wörter “ihr”/”sein” hervorgerufen werden sollen. Es wurde nicht getestet, ob diese Wörter wirklich deutlich als semantische primer für das Geschlecht wirken können. Immerhin lautet auch das neutrale Possessivpronomen “sein”, und da ja auch Wörter ohne SG ein GG haben, kann beispielsweise “seine Kiste” sich ja auch auf einen Lastwagen beziehen, der eine Kiste hat (an dem aber ja nichts besonders männlich ist). Außerdem sind wir es aus dem Alltag ja gewohnt, dass wir Kombinationen wie “seine Gabel” oder “ihr Löffel” lesen – insofern bin ich mir nicht so sicher, ob es hier wirklich einen starken priming-Effekt geben sollte. Diese Probleme werden in der Arbeit auch angesprochen, aber es ist natürlich nicht so einfach, sie in den Griff zu bekommen.
Deshalb gab es noch weitere Experimente: Hier dienten als semantische primer (die also die Idee eines bestimmten Geschlechts hervorrufen sollten) die Wörter “der/die”, “Mann/Frau” sowie Piktogramme mit dem männlich/weiblich-Symbol (damit hatten allerdings viele Versuchspersonen Schwierigkeiten) sowie Piktogramme, wie man sie z.B. an Toiletten finden kann. Als Versuchswörter wurden jetzt keine Nicht-Wörter mehr verwendet sondern entweder Objekte oder Wörter, die tatsächlich auch ein SG haben (Wie “Onkel” oder “Tante”). Die VPs sollten explizit das Geschlecht des jeweiligen Wortes bestimmen (die Wörter, die sowohl ein GG als auch ein SG haben, wurden so gewählt, dass diese beiden immer übereinstimmen, Wörter wie “Mädchen” waren also ausgeschlossen). Ich finde es ja ein wenig schade, dass man nicht genau dasselbe Experiment wie vorher gemacht hat – also ein männliches/weibliches Piktogramm mit dem Wort “Staken”/”Stike” gezeigt und gemessen, ob es einen SG-priming-Effekt gibt. Dadurch dass hier zwei Variablen verändert wurden, lassen sich die Ergebnisse schwerer interpretieren. (Vermutlich alle Leute, die mit mir zusammenarbeiten, kennen mein Mantra: “Ändere nie zwei Variablen gleichzeitig!”…)
Generell zeigte sich (wenn ich alles richtig verstehe), dass in allen Fällen “der/die” den stärksten priming-Effekt hatte. Bei den Wörtern, die ein SG haben, gab es auch durch Begriffe wie “Mann/Frau” einen starken priming-Effekt, bei den Objekten ohne SG dagegen nicht. Problematisch erscheint mir bei der Auswertung, dass drei Gruppen von Experimenten durchgeführt wurden – es wurde jeweils der priming-Effekt von “der/die” verglichen mit “Mann/Frau” bzw. den Symbolen. Eigentlich müsste man vielleicht erwarten, dass die Ergebnisse für die primer “der/die” in allen drei Experimenten etwa identisch sein sollten, aber das war nicht der Fall – in dem Experiment mit den männlich/weiblich-Symbolen (die ja besonders schlechte primer waren), war der priming-Effekt der Artikel besonders stark.
Insgesamt kommen die AutorInnen des Artikels zu folgendem Schluss: “performance in lexical tasks on objects is not sensitive to priming biological gender” [Die Leistung bei lexikalischen Aufgaben wird nicht durch primer für das biologische Geschlecht beeinflusst.] Das GG dagegen hat offensichtlich einen starken priming-Effekt.
Das ist auf jeden Fall ein interessantes Ergebnis. Man muss aber beachten, dass dieses Ergebnis nicht den Umkehrschluss zulässt: Bei Worterkennungs-Aufgaben dient das SG nicht als primer; das bedeutet aber nicht, dass nicht umgekehrt ein Wort mit einem bestimmten GG nicht auch mit einem SG assoziiert wird. (Man sollte vielleicht mal das umgekehrte Experiment machen und testen, ob Wörter mit einem GG als primer für Wörter mit einem SG dienen können, soweit ich weiß, hat das so herum niemand gemacht.)
Boroditsky et al. 2003
Von Lera Boroditsky gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, die in einem Übersichtsartikel zusammengefasst werden. Die erste, die ich kurz angucken möchte, ist eine Wortgedächtnis-Aufgabe. Dabei bekamen VPs Objekte, die mit einem Namen belegt waren, also z.B. ein Apfel, der “Patrick” oder “Patricia” heißen konnte. Das Experiment wurde mit deutschen und spanischen MuttersparchlerInnen gemacht, und zwar so, dass die Objekte in beiden Sprachen entgegengesetztes GG hatten. Das Experiment selbst wurde aber auf Englisch durchgeführt – alle VPs sprachen fließendes Englisch. Es zeigte sich, dass das Lernen leichter war, wenn GG des Objekts und SG des Namens übereinstimmten – zunächst wenig überraschend, wenn man sich vorstellt, dass man sich zum Lernen beispielsweise Kombinationen wie “Patrick, der Apfel” besser merken kann als “Patricia, der Apfel”. Da das Experiment aber auf Englisch durchgeführt wurde, sollten sich die VPs eigentlich ja die Kombination “Patricia, the apple” gemerkt haben (wer fließend Englisch spricht, der denkt ja auch in dieser Sprache) – trotzdem gab es einen Effekt. Das ist zumindest ein Indiz dafür, dass das GG der Muttersprache auch das geistige Bild eines Objekts irgendwie beeinflusst.
Fazit der Versuche
Was können wir aus den Versuchen schließen? Es gibt einen priming-Effekt durch das GG – Wörter wie “der” lassen uns (wenig überraschend) erwarten, dass ein Wort mit passendem GG folgt. (Wobei man auch hier berücksichtigen muss, dass “der” ja auch ein femininer Artikel im Genitiv und Dativ sein kann, und “die” der Universal-Artikel im Plural ist – soweit ich sehen kann, wurde das in den Arbeiten nicht diskutiert (es sei denn, ich habe es überlesen).) Die Experimente von Cubelli et al. zeigen, dass das GG mit einem Begriff eng genug verknüpft ist, dass es als “primer” für andere Wörter mit übereinstimmendem GG wirken kann – allerdings stimmen Boutonnet et al. mit dem Ergebnis nicht ganz überein. Aus dem Experiment von Bender et al. lernen wir, dass das SG anscheinend nicht als primer für Wörter dient, die kein SG haben. Daraus kann man möglicherweise schließen, dass auf dieser Verarbeitungsebene das GG nicht direkt als SG interpretiert wird; so ganz klar bin ich mir aber nicht, ob das eine zulässige Schlussfolgerung ist, denn bei solchen einfachen “Wortabruf-Aufgaben” ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass ein schwacher semantischer primer nicht wirkt.
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