Es ist mir in den letzten Monaten schon mindestens zweimal passiert: Wenn es um das Thema Gleichstellung geht, dann kommt früher oder später ein Kommentar der Art “Ich kann es nicht mehr hören”, gern gefolgt von einem “Inzwischen sind Frauen doch bevorzugt” oder – wie gerade gehört – “Inzwischen braucht man sich als Mann ja gar nicht mehr zu bewerben”. (Kleiner Profitipp: Wenn man so einen Satz in einer Projektsitzung sagt und von etwa 50 anwesenden Personen sind etwa 5 Frauen, dann führt man sich ein klein wenig selbst ad absurdum…) Zum Glück braucht man auch bei solchen Themen nicht einfach nur seinem Bauchgefühl zu folgen – es gibt ja auch in diesem Bereich Forschung. und die gucke ich mir heute an.
Vorweg wieder einmal eine Warnung: Ich bin theoretischer Physiker und arbeite in der Materialwissenschaft. Wenn es um Quanteneffekte geht, um Versetzungsbewegungen oder Spannungsverteilungen, bin ich (hoffentlich) einigermaßen fachkompetent. Bei Themen aus dem Bereich Soziologie verfüge ich über einen Abschluss der google University und mein Diplom ist von Dunning und Kruger unterschrieben. Der kleine Überblick hier ist dementsprechend wahrscheinlich nicht repräsentativ (einen Teil der Links habe ich bei Greta Christina geklaut), gibt vermutlich nicht die wichtigsten Forschungsarbeiten wieder und es ist durchaus möglich, dass ich an der einen oder anderen Stelle etwas falsch verstanden habe. (An der Kernaussage dürfte das aber wenig ändern.) Ich schreibe diesen Artikel trotzdem (schon allein, damit ich in Zukunft immer drauf verweisen kann, wenn es mal wieder relevant wird) – aber falls ich Mist gebaut habe, dürft ihr mir das gern sagen.
Und noch eine zweite Warnung gleich vorweg: Ja, es ist möglich, dass es auch echte, genetische und angeborene Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt und dass auch in einer absolut idealen Welt, in der keine geschlechtsspezifischen Stereotypen existieren, mehr Männer als Frauen IngenieurIn werden oder Physik studieren wollen. (Die Hinweise auf solche Effekte sind aber zumindest umstritten.) Allerdings ist dabei zu bedenken, dass wir es mit einer breiten Verteilungskurve zu tun haben – im Mittel sind zwar Männer auch größer als Frauen, das heißt aber ja nicht, dass es nicht auch große Frauen gibt. (Mal ganz davon abgesehen, dass die Trennung Mann-Frau ohnehin nicht so binär ist, wie unser “gesunder Menschenverstand” es uns sagt.) Aus einer Differenz der Mittelwerte zu folgern, dass sich eine Gruppe prinzipiell nicht für irgendein Gebiet eignet, ist ziemlich gewagt (wer von euch würde darauf wetten, dass in einer Gruppe von 20 Personen alle Männer größer sind als alle Frauen?). Um also entsprechend Chancengleichheit (und darum geht es ja bei der Gleichstellung) herzustellen, dürfen wir solche Effekte erst einmal ignorieren und uns auf die gesellschaftlichen Effekte konzentrieren, die zu einem Ungleichgewicht führen, und von denen wir wissen, dass sie existieren, und die, wir wir gleich sehen werden, dazu führen, dass Frauen bei identischer Leistung schlechter bewertet werden (Moss-Racusin et al., 2012). (Zumal es auch in der Vergangenheit ja alle möglichen Ideen gab, was Frauen alles nicht können…) Die meisten Studien stammen übrigens aus den USA – da dort aber Maßnahmen zur Gleichstellung ja eher länger existieren als hier bei uns, sind die Ergebnisse vermutlich übertragbar. (Falls ihr gegenteilige Studien kennt, immer her damit…)
Ach so, und noch ein Drittes: Ja, es gibt auch Berufe, in denen Männer deutlich in der Unterzahl sind, und nein, auch das ist nicht gut. Berufe wie zum Beispiel KindergärtnerIn, KrankenpflegerIn oder GrundschullehrerIn sind stark weiblich dominiert, und ich vermute, dass Männer in diesen Berufsfeldern auch mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. (Und falls jemand dazu Studien parat hat, verweist gern in den Kommentaren darauf.) Auch dort sind (meiner Ansicht nach) entsprechende Gleichstellungsmaßnahmen sinnvoll und hilfreich. Im Artikel hier geht es aber um die sogenannten “MINT”-Fächer (Mathe, Ingenieurwissenschaft, Naturwissenschaft, Technik). Und ja, für den einzelnen kann es durchaus ärgerlich sein, wenn eine gleichqualifizierte Frau für eine Stelle möglicherweise auf Grund von Gleichstellungsmaßnahmen bevorzugt wird. Das ist aber letztlich nur die Kehrseite der Medaille, dass eben normalerweise (aufgrund diverser Effekte, die wir gleich dann endlich angucken) Männer die besseren Karten haben.
So, nach all diesem Vorgeplänkel (ich hoffe, ihr kommt euch nicht vor als müsstet ihr das Kleingedruckte bei einem Versicherungsvertrag lesen) nun aber endlich zu den Inhalten diverser Forschungsartikel, lose sortiert nach Themengebieten. (Und wie gesagt, ohne Anspruch darauf, dass ich nicht aus versehen einen Artikel aus einem Bezahl-Journal mit impact factor 0.0001 oder eine längst widerlegte Außenseitermeinung für relevant halte.)
Mathematische Fähigkeiten
Na klar – wer sich vor Zahlen gruselt, sollte vielleicht nicht unbedingt Physik studieren. (Obwohl die meisten PhysikerInnen meiner Erfahrung nach nicht unbedingt begeistert kopfrechnen oder Knobelaufgaben lösen – ihr könnt trotzdem Spaß in der Physik haben und erfolgreich sein.) Sicher gibt es noch andere Fähigkeiten, die jemand für STEM-Fächer mitbringen sollte, aber Mathe hat den Vorteil, dass es überall in Schulen gelehrt wird und deswegen reichhaltige Daten vorliegen. Ich nehme hier Daten der amerikanischen SAT-scores, weil ich dazu einige passende Veröffentlichungen gefunden habe.
Betrachtet man zunächst einmal Mittelwerte, dann liegt der Mittelwert des SAT-scores in Mathematik für Jungen im Jahr 2013 bei 531, für Mädchen bei 499. Ein klarer Unterschied, wie es aussieht. Interessanter wird es, wenn man die Verteilungskurven ansieht:
(Grafik vom Blog “Good Thinking”)
Demnach liegt der Unterschied vor allem im ganz rechten Bereich – es gibt mehr Jungen als Mädchen, die in Mathe exzellente Ergebnisse erzielen. Dieses Bild illustriert aber auch schon sehr schön das, was ich oben über Gaußkurven geschrieben habe: Der Überlapp ist trotz der unterschiedlichen Mittelwerte so groß, dass man daraus besser keine Schlussfolgerungen darüber ableiten sollte, dass sich Frauen generell nicht für Mathe eignen.
Eine andere detaillierte Aufschlüsselung der Daten gibt die Studie Hyde et al. (2008). Auch dort wird gezeigt, dass die Unterschiede in den mathematischen Fähigkeiten vergleichsweise klein sind, dass aber bei Jungen eine größere Varianz vorliegt, so dass es mehr mathematisch brillante Jungen als Mädchen gibt. (Auch in Deutschland schneiden übrigens laut Pisa Jungen in Mathe besser ab als Mädchen.)
Im Bereich der mathematischen Einzelfähigkeiten gibt es gute Hinweise darauf, dass Männer bei Tests zum räumlichen Vorstellungsvermögen besser abschneiden als Frauen. (Diese Informationen stammen aus der Meta-Studie “Why so Few” von Hill et al.; weil ich die häufig zitieren werde, kürze ich sie mit WSF ab.) Forschungen zeigen aber (WSF, S. 52ff), dass Defizite in diesem Bereich relativ leicht abgebaut werden können; wenn es also gerade diese Fähigkeit ist, die einen entscheidenden Einfluss hat, dann ließe sich das Problem durch entsprechende Schulungskurse vergleichsweise leicht beheben.
So oder so sind diese Daten allein sind aber nicht hinreichend, um die große Lücke zwischen der Zahl von Frauen und Männern in z.B. den Ingenieurwissenschaften zu erklären, denn die Unterschiede in den mathematischen Fähigkeiten sind deutlich kleiner als das Geschlechterverhältnis.
Trotzdem kann man sich natürlich fragen, woher solche Unterschiede stammen könnten. Dazu gibt es auch einige Erkenntnisse.
Behandlung durch Lehrkräfte
Eine viel zitierte Studie (Sadker&Sadker, 2010) zeigt zahlreiche Unterschiede darin auf, wie Jungen und Mädchen im Unterricht in der Schule untrschiedlich behandelt werden. Leider habe ich die Studie als Ganzes nicht, aber hier findet man einige Ergebnisse aus einer der ersten Untersuchungen aus dem Jahr 1993. Mädchen werden häufiger als Jungen ermahnt, wenn sie eine Antwort ohne sich zu melden in den Raum rufen, Antworten von Jungen werden stärker wertgeschätzt und kommentiert, während Mädchen sich oft mit einem Kopfnicken begnügen müssen, und generell tendieren Lehrkräfte eher dazu, Mädchen schnell zu helfen, während sie Jungen ermuntern, Probleme selbst zu lösen. (Und bevor jetzt jemand anfängt, mir zu erzählen, dass es doch inzwischen Jungen sind, die in der Schule benachteiligt werden, lest hier (ein Artikel, der sehr schön aufzeigt, dass Mädchen und Jungen durch Stereotype benachteiligt werden) und hier. (Dort findet ihr übrigens auch Studienergebnisse zitiert, die zeigen, dass als KursleiterIn zum Thema Gleichstellung Frauen deutlich anders eingeschätzt werden als Männer. Ungleichbehandlung gibt es nicht nur in MINT-Fächern…))
Eine kleine, aber interessante Studie (Beilock et al., 2010) beschäftigt sich mit dem Einfluss der Einstellung von Lehrerinnen zur Mathematik (hier geht es explizit um Lehrerinnen, weil die gerade im Grundschulbereich stark dominieren). Es zeigt sich, dass in Klassen, in denen die Lehrerin an “math anxiety” (also einer gewissen Abneigung gegen Mathematik – mir wurde leider nicht ganz klar, wie das genau gemessen wurde) leidet, die mathematischen Fähigkeiten von Mädchen deutlich weniger ansteigen als die von Jungen. Wenn es also nicht unüblich ist, dass Grundschullehrerinnen sich in Mathe nicht sicher oder wohl fühlen, dann hat das direkte Auswirkungen auf die Geschlechterdifferenz der SuS (Kurzform für “Schülerinnen und Schüler” im Pädagogensprech).
Stereotypen
Stereotypen sind Denkabkürzungen – wir wissen (oder glauben zu wissen), dass Angehörige der Gruppe X die Eigenschaft Y haben und erwarten dies deshalb auch bei jedem einzelnen Individuum der Gruppe X (wenn wir keine explizit gegenteilige Information haben – siehe auch die unten zitierte Studie zum Thema Auswahlverfahren). “Männer sind aggressiv”, “Jungen weinen nicht”, “Mädchen sind brav”, “Frauen können nicht einparken” (Wenn da mal einer ne Kurve wie die der SAT-scores macht, dann bin ich der Datenpunkt gaaaaanz links) usw. (Ich hoffe, die Beispielsätze zeigen, dass Stereotypen auch für Männer problematisch sind, nicht nur für Frauen. Und ja, auch positive Stereotypen sind ein Problem, weil sie Menschen unter Druck setzen, einem Standard zu genügen.)
Solche Stereotypen sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet und wir wachsen mit ihnen auf. Frei davon ist vermutlich niemand (selbst testen könnt ihr die Stärke verschiedener Stereotypen beim Project implicit, was ich sehr empfehle). Dies kann dazu führen, dass allein die Erwartungshaltung, als AngehörigeR einer bestimmten Gruppe müsse man schlechter abschneiden, die Testergebnisse beeinflussen kann. Das belegen verschieden Studien.
Nehmt beispielsweise eine Gruppe von Studierenden, die alle laut ihren Testergebnissen etwa gleich gut in Mathe sind. Teilt sie in zwei Gruppen ein und lasst sie einen kniffligen Mathe-Test schreiben. Der einen Gruppe sagt ihr vorher, dass bei diesem Test Männer und Frauen im Mittel gleich gut abschneiden, der anderen sagt ihr, dass Frauen typischerweise schlechter abschneiden. (Diese letzte Bedingung nennt man “stereotype threat” – die Bedrohung durch ein Stereotyp.) Das hier ist das Ergebnis:
(Bild aus WSF, S. 40)
Schon ziemlich drastisch, oder? (Schade übrigens, dass man nicht auch den umgekehrten Versuch gemacht hat und einer dritten Gruppe gesagt hat, dass Männer in diesem Test oft schlechter abschneiden. Dann könnte man sehen, was passiert, wenn konkrete Information und übliches Stereotyp nicht zusammenpassen. Das ist generell oft schade bei Studien dieser Art – es wird oft nicht die Gegenprobe gemacht, aus der man ja auch etwas lernen könnte.)
Eine ähnliche Studie stammt von Moe (2012). Dort mussten SuS einen Test zum räumlichen Vorstellungsvermögen ablegen, und zwar in zwei Teilen. Nach der ersten Hälfte wurde ihnen gesagt, dass Männer bei solchen Tests besser abschneiden als Frauen (was ja auch wie wir oben gesehen haben, richtig ist) und es wurden unterschiedliche Gründe genannt: 1. genetischer Einfluss, 2. gesellschaftliches Stereotyp, 3. Frauen sind vorsichtiger und brauchen deshalb länger, oder gar keine (Kontrollgruppe). Anschließend kam die zweite Hälfte des Tests. Frauen in Gruppe 2 und 3, denen also erklärt wurde, dass Unterschiede in den Testergebnissen nichts mit ihren eigentlichen Fähigkeiten zu tun haben, schnitten in der zweiten Testhälfte deutlich besser ab (auch wenn die Standardabweichung der Verteilung groß ist), die in Gruppe 1 schlechter. Allerdings galt interessanterweise für Männer dasselbe – auch hier waren die Männer in Gruppe 2 und 3 in der zweiten Testhälfte besser und die in Gruppe 1 schlechter ab. Das paper bietet verschiedene Spekulationen an, was genau die Effekte sein könnten – interessant und etwas unerwartet sind die Ergebnisse auf jeden Fall. So oder so sieht man aber, wie stark die Erwartungshaltung solche Ergebnisse beeinflussen kann.
Niederle und Westerlund (2010) untersuchen in einer Überblicksstudie den Einfluss des Wettbewerbs-Charakters. Andere Studien haben gezeigt, dass Männer und Frauen unterschiedlich auf Wettbewerbssituationen reagieren. In einer Wettbewerbssituation (die Aufgabe besteht darin, am Computer Wege durch ein Labyrinth zu finden) schneiden laut mehreren Studien Frauen deutlich schlechter ab, wenn sie in einer gemischten Gruppe gegeneinander antreten, als wenn sie nur gegen andere Frauen antreten.
Insgesamt zeigen diese Studien, dass die Erwartungshaltung einen deutlichen Einfluss auf das Ergebnis von Tests hat. Eine Gesellschaft, in der suggeriert wird, dass Mathe und Naturwissenschaften eher männliche Domänen sind (wie bei der berühmten “Math class is tough”-Barbie, ein Spaziergang durch eine Spielzeug- oder Buchabteilung ist auch sehr instruktiv…), kann man also erwarten, dass Frauen schon allein aufgrund dessen schlechter abschneiden. (Was, wie gesagt, nicht heißen muss dass es keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt.) Auch Jürgen hat schon vor einiger Zeit eine Studie zu diesem Thema vorgestellt. Die Datenlage spricht also dafür, dass zumindest ein Teil der Unterschiede in den Testergebnissen, die wir oben gesehen haben, durch solche Stereotyp-Effekte zu Stande kommt.
Die unbewussten Stereotypen gehen übrigens ziemlich weit. Eine interessante Studie dazu wird in WSF, S. 76, zitiert. Legt man Menschen einen zufälligen Namen vor und zeigt ihnen dann ein paar Tage später eine Liste, in der sie berühmte Personen identifizieren sollen, dann picken sie den gezeigten Namen deutlich häufiger heraus als einen beliebigen anderen. Die Erinnerung an den Namen ist also da, aber nicht mehr die Erinnerung, wo man ihn schon einmal gesehen hat. Das gilt allerdings wesentlich stärker, wenn der zufällige Name männlich ist – weibliche Namen werden also nicht so leicht für die berühmter Personen gehalten. (Was in unserer männerdominierten Geschichte ein naheliegendes Stereotyp ist – berühmte Personen sind eben meist männlich.)
Selbsteinschätzung
Auch in einem anderen Aspekt unterscheiden sich Männer und Frauen: In ihrer Selbsteinschätzung und den Anforderungen, die sie an sich selbst stellen. Zunächst einmal gibt es auch hier einen Effekt der Erwartungshaltung (Studie zitiert nach WSF, S. 47ff). Hierzu wurden Versuchspersonen mit einer Aufgabe konfrontiert, bei der sie abschätzen sollten, ob eine Fläche überwiegend weiß oder schwarz ist. Tatsächlich war die Verteilung der Farben in den gezeigten Bildern genau gleich, so dass es keine korrekte Antwort gab. Alle Personen erhielten als Rückmeldung, dass sie 13 oder (im 2. Durchlauf) 12 richtige Antworten hatten. Dann sollten ihre Fähigkeiten in dieser Aufgabe einschätzen, nachdem sie entweder erfahren hatten, dass Männer die Aufgabe besser lösen oder dass es keinen Geschlechtsunterschied gibt. Hier das Ergebnis:
(Aus WSF, S. 48)
Allein die Erwartungshaltung der Geschlechterdifferenz führte also dazu, dass Frauen ihre Fähigkeiten schlechter einstuften. Noch interessanter ist die nächste Frage, die sinngemäß lautete “Wie hoch müsste deine Punktzahl sein, damit du das Gefühl hast, diese Fähigkeit gut zu beherrschen?” Auch hier zeigte sich ein drastischer Effekt:
(Bild aus WSF)
Das ist deswegen so interessant, weil es sich mit anderen Studienergebnissen deckt. Beispielsweise zeigen Concannon und Barrow (2010), dass man bei männlichen Studis der Ingenieurwissenschaft die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr Studium durchhalten, mit ihrer (am Anfang des Studiums selbst eingeschätzten) Fähigkeit korreliert, ihre Kurse zu absolvieren; bei Frauen dagegen ist die Korrelation stärker mit ihrer (selbst eingeschätzten) Fähigkeit, in den Kursen gute Noten (A oder B) zu bekommen. Frauen scheinen also höhere Anforderungen an sich zu stellen als Männer. (Das genaue Studiendesign ist ziemlich kompliziert, ich gebe die Schlussfolgerung hier etwas eingedampft wieder.) Eine andere Studie (zitiert in WSF, S. 45) zeigt, dass Schüler bei tatsächlich gleicher Fähigkeit ihre mathematischen Kenntnisse höher einschätzen als Schülerinnen. Die Selbsteinschätzung der mathematischen Fähigkeiten wiederum hängt eng damit zusammen, ob Studis beispielsweise einen Kurs in Analysis wählen oder nicht (WSF, S. 46). Bei gleicher mathematischer Fähigkeit schätzen Frauen ihre Kenntnisse also niedriger ein und sind wegen dieser niedrigeren Selbsteinschätzung nicht so geneigt, einen Kurs in höherer Mathematik zu besuchen.
Dieses Problem kann durch Unterschiede in den Fächerkulturen weiter verstärkt werden – beispielsweise findet man in der Informatik, dass Frauen sich bei gleicher Fähigkeit schlechter einschätzen als Männer und dass diese Differenz sich während des Studiums verstärkt (WSF, S. 60). Eine Studie von Cheryan et al. (2013) zeigt, dass gerade in der Computerwissenschaft das Standard-Bild eines “Computer-Nerds” einen starken Einfluss darauf hat, ob Frauen sich für einen Computerkurs interessieren. Schon die Gestaltung eines Computerraums (beispielsweise ob dort Star-Trek-Poster hängen oder Comics herumliegen) beeinflussen das in einem anschließenden Gespräch geäußerte Interesse an Informatik (Cheryan et al, 2009). Hmm, vielleicht muss ich über die Poster in meinem Büro nochmal nachdenken…
Die Wahrnehmung der anderen
Männer und Frauen werden in beruflichem Kontext auch unterschiedlich wahrgenommen. Eine Studie, die das relativ deutlich belegt, stammt von Moss-Racusin et al. (2012). Hier wurden 127 ProfessorInnen verschiedener Universitäten gebeten, Bewerbungsunterlagen für die Leitung eines labors zu sichten und zu bewerten. Sie bekamen alle dieselben Unterlagen, der einzige Unterschied war der, dass die eine Hälfte (63) der Bewertenden einen männlichen, die andere Hälfte einen weiblichen Namen auf den Unterlagen fand. Das Ergebnis lässt sich in einer einfachen Grafik zusammenfassen:
Aus Moss-Racusin et al. (2012)
Auch das vorgeschlagene Anfangsgehalt unterschied sich drastisch – es lag bei männlichen Bewerbern bei etwas über 30000$, bei weiblichen bei etwa 26500$. Immerhin – gut 10% Unterschied nur auf Grund des Namens. Eigentlich ist diese Studie allein schon ein ziemlich drastischer Beweis dafür, dass wir noch keine Gleichstellung erreicht haben.
Es macht dabei übrigens keinen Unterschied, ob die Bewertungen selbst von Männern oder Frauen stammen, die Zahlen unterscheiden sich hier kaum. Auch Frauen, die an entsprechenden Machtpositionen sitzen, haben die Stereotypen also anscheinend verinnerlicht und bewerten entsprechend.
Eine andere Studie (Trix&Psenka, 2003 – hier ist evtl. etwas Vorsicht geboten, da google scholar diese Publikation anscheinend nicht kennt?) untersucht Empfehlungsschreiben, die in der Personalabteilung einer medizinischen Fakultät vorlagen. Dabei ist zu beachten, dass nur solche Schreiben verwendet werden konnte, die in den Akten vorhanden waren – also solche, bei denen die jeweilige Person auch tatsächlich eingestellt worden war. Eine Statistik darüber, wie viele Personen welchen Geschlechts sich jeweils beworben haben, gab es nicht. Trotzdem sind die Ergebnisse durchaus interessant. (Außerdem enthält die Arbeit viele Beispieltexte, aus denen ich mich in Zukunft bedienen werde, wenn ich mal wieder ein Empfehlungsschreiben verfassen muss.)
Empfehlungsschreiben für Frauen waren tendenziell etwas kürzer (im Mittel 227 gegenüber 253 Worten bei Männern). Einige Empfehlungsschreiben fielen unter die Kategorie “ziemlich mau” (o.k., das ist mein Ausdruck, im paper heißt das vornehm “letters of minimal assurance”) – bei Frauen waren das 15% aller Briefe, bei Männern nur 6%. (Man kann natürlich nicht ausschließen, dass die Frauen tatsächlich einfach schlechter waren…) Übrigens – ein Tipp für euch, falls ihr mal ein paper schreibt: Grafiken dieser Art:
(Aus Trix&Psenka, 2003) sind echt überflüssig…
Eine andere interessante Kategorie sind Textbausteine, die als “doubt raisers” bezeichnet werden – etwa “she has a challenging personality” oder “while not the best student I had..” Solche doubt raisers findet man in 24% der Briefe für Frauen, aber nur in 12% der Briefe für Männer. (Ich spare es mir jetzt, die Grafik hier einzubinden (kopfschüttel – hat da jemand 2003 zum ersten Mal ein programm mit 3D-Balken in die Finger bekommen?).)
Auch Adjektive werden unterschiedlich verteilt: 7% der Männer aber nur 3% der Frauen haben ein “successful” in ihrem Schreiben, dafür sind 16% der Frauen “compassionate” oder haben ein gutes Verhältnis zu Patienten und Kollegen, während das nur bei 4% der Männern in den Schreiben steht. Schließlich wurde noch nach Phrasen gesucht, in denen ein Possessivpronomen verwendet wurde, wie “his teaching”, “her research”. Auch hier ein deutlicher Unterschied, bei dem die Graik sogar ausnahmsweise Sinn ergibt:
(Aus Trix&Psenka, 2003)
Frauen werden also z.B. deutlich häufiger mit der Lehre in Verbindung gebracht, Männer mit der Forschung. (Es mag natürlich sein, dass bei den untersuchten Personen tatsächlich mehr Frauen als Männer in der Lehre tätig waren. Dass aber in Briefen für Frauen auch häufiger das Privatleben Erwähnung fand, lässt sich so kaum erklären.) Auch wenn es möglich ist, dass es tatsächlich Unterschiede zwischen den untersuchten Männern und Frauen gab, ist es doch nicht sehr wahrscheinlich, dass diese allein alle beobachteten Unterschiede in den Schreiben erklären können.
Isaac et al (2009) untersuchen in einer Meta-Studie (also einer Zusammenstellung von Ergebnissen anderer Studien) die Ungleichbehandlung der Geschlechter (“gender bias”) bei Einstellungsverfahren und auch, welche Maßnahmen dagegen helfen können. Es zeigt sich, dass Frauen insbesondere dann (in männerdominierten Feldern) für weniger kompetent gehalten werden, wenn keine detaillierten Informationen über die Kompetenz gegeben werden. Detaillierte Informationen können also anscheinend zumindest teilweise verhindern, dass ein Stereotyp eingesetzt wird. Da sich diese Studie vor allem mit dem Erfolg von Maßnahmen gegen die Ungleichbehandlung befasst, gehe ich hier nicht auf alle Details ein – sie zeigt aber auch, dass eben ohne solche Maßnahmen eine Ungleichbehandlung vorliegt.
Ein anderes Beispiel dafür, dass Frauen anders wahrgenommen werden, findet sich in Heilmann et al (2004). Dazu sollten Studis die Kompetenz und die “likability” (was heißt denn das auf Deutsch? Nettigkeit? Sympathie?) von Personen an Hand von Unterlagen bewerten. Das Aufgabenfeld der zu evaluierenden Person stammt dabei aus einem typisch “männlichen” Gebiet (z.B. Luftfahrt), was an Hand der Dokumente deutlich wurde. Es wurden dabei unterschiedliche Profile vorgelegt, solche, bei denen die zu beurteilende Person deutlich sehr erfolgreich war und solche, bei denen die Fähigkeit im Job eher mittelmäßig einzustufen war. Eine übersichtliche Grafik der Ergebnisse gibt es mal wieder in der WSF-Studie:
Aus WSF
Also: Wenn aus euren Unterlagen hervorgeht, dass ihr sehr erfolgreich seid, dann werdet ihr auch so beurteilt, völlig unabhängig von eurem Geschlecht. Wenn ihr dagegen nicht zur Leistungsspitze gehört, dann werdet ihr deutlich besser beurteilt, wenn ihr ein Mann seid (linke Seite der Grafik). Umgekehrt ist die “likability” von Frauen und Männern etwa gleich hoch, wenn diese Mittelmaß sind – aber als deutlich erfolgreiche Frau werdet ihr als weniger “likable” angesehen als ein genau so erfolgreicher Mann. Als Frau steckt ihr also in der Zwickmühle: Seid ihr erfolgreich, dann mag man euch nicht, seid ihr nicht so erfolgreich, wird eure Kompetenz deutlich schlechter beurteilt. Das gilt so allerdings nur in Bereichen, die als Männerdomäne gelten; in eher neutralen oder weiblich dominierten Feldern verschwindet der Effekt (WSF, S. 82).
Zu diesen Ergebnissen passt auch das, was Brescoll und Ullmann (2008) untersucht haben. Sie haben den Eindruck untersucht, den unterschiedliche Gefühlsregungen auf BetrachterInnen haben. Dazu wurden den Versuchspersonen Videos von Job-Interviews (die natürlich gestellt waren) vorgeführt, in denen SchauspielerInnen schilderten, wie sie einen wichtigen Auftrag nicht bekommen hatten, und zwar entweder zornig oder traurig. Anschließend sollten die Versuchspersonen dann die Interviewten bewerten, nach den Kriterien Status, Kompetenz, dem Gehalt, das sie den Personen geben würden, sowie einem Kriterium, das ich nicht ganz verstehe (“external attributions” – wenn ich das hier richtig begreife, sagt das aus, in wie weit das jeweils geäußerte Gefühl durch äußere Einflüsse verursacht wurde.) Hier die Zahlen (die Skala lief bei den Kriterien von 1-11; evtl. müsst ihr die Tabelle zum Vergrößern anklicken):
Brescoll und Ullmann (2008)
Eine Frau, die Wut äußert, wird also als deutlich weniger kompetent eingeschätzt, ihr wird ein massiv niedrigeres Anfangsgehalt zugesprochen und (wenn ich das mit der attribution richtig verstehe) die Wut wird ihr deutlich eher als Charaktereigenschaft zugeschrieben. Umgekehrt verliert ein Mann deutlich an Status und auch an Kompetenz, wenn er Trauer zeigt; diese wird ihm aber nicht so stark als Charaktereigenschaft zugeschrieben wie die Wut bei einer Frau. (Was aber wieder einmal zeigt, dass Stereotypen auch für Männer ein Problem sind.) Die Studie enthält noch weitere Experimente, die aber die hier vorgestellten Ergebnisse nur verfeinern.
Insgesamt habt ihr als Frau also Probleme, gleichzeitig kompetent und “nett” zu erscheinen und müsst auch euren Ärger deutlich stärker zügeln als ein Mann.
Fazit
Insgesamt scheint mir der Stand der Forschung doch einigermaßen deutlich: Frauen werden in männerdominierten Berufsfeldern deutlich anders wahrgenommen und haben dort mit einer Menge (sicherlich unbewusster) stereotyper Zuschreibungen zu kämpfen. Selbst identische Bewerbungsunterlagen werden deutlich schlechter beurteilt, wenn sie von einer Frau stammen. (Und das allein sollte all jenen zu denken geben, die sagen, sie wären gegen Gleichstellungsmaßnahmen, weil sie nur den oder die Beste einstellen wollten, unabhängig vom Geschlecht.) Frauen haben es schwerer, gleichzeitig für kompetent und “likable” gehalten zu werden und müssen auch mehr Vorsicht walten lassen, wenn sie z.B. wütend werden, da ihnen das negativer ausgelegt wird als Männern. Es ist unwahrscheinlich, dass die starke Diskrepanz allein auf unterschiedliche Fähigkeiten in z.B. Mathematik zurückgeführt werden können, und auch wenn es solche Unterschiede anscheinend im Moment gibt, ist nicht klar, in wie weit auch diese wiederum auf der eigenen Erwartungshaltung beruhen (der “stereotype threat”). Weibliche Studierende in MINT-Fächern scheinen (eventuell auch auf Grund des Stereotyps) höhere Anforderungen an sich selbst zu stellen und schätzen sich unter einem “stereotype threat” selbst schlechter ein als männliche Studis, was dann wiederum Auswirkungen darauf hat, in wie weit sie sich für eine Karriere in diesem Bereich geeignet fühlen.
Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: ich behaupte nicht, dass es eine finstere Verschwörung und männliche Seilschaften gibt, die dazu führen, dass Frauen systematisch von Positionen in männerdominierten Bereichen ausgeschlossen werden. (Männer, die Frauen bewusst für ungeeignet in solchen Feldern halten, dürften hoffentlich so langsam aussterben, obwohl es auch da immer noch genügen Fälle gibt…) Gegen eine solche Verschwörungstheorie spricht auch, dass es zum Beispiel bei der Studie von Moss-Racusin et al (mit der Bewerbung auf eine Laborleitungsposition) keine signifikanten Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Bewertenden gab. Das spricht stark dafür, dass die Mechanismen, die zu einer anderen Beurteilung von Frauen führen, in den Köpfen verankert und vermutlich auch unbewusst sind. Es ist zumindest plausibel, anzunehmen, dass dies auf unserer Sozialisierung und entsprechenden Stereotypen in der Gesellschaft beruht (biologische Effekte sind zwar natürlich nicht auszuschließen, aber sollten ja spätestens dann, wenn dasselbe Bewerbungsschreiben gelesen wird, keine Rolle spielen).
Falls ihr euch jetzt fragt, was man tun kann: Gute Frage. Maßnahmen, die helfen können, findet ihr zum Beispiel in Isaac et al (2009) oder sehr ausführlich in der WSF-Studie, Kapitel 10. Da dieser Artikel eh schon zu lang ist (und da die Liste in der WSF-Studie sehr übersichtlich ist), führe ich hier nicht alles auf. Dass Gleichstellungsmaßnahmen längst überflüssig sind, wird auf jeden Fall durch die aktuelle Forschung nicht gedeckt.
Quellen
Beilock, Sian L., et al. “Female teachers’ math anxiety affects girls’ math achievement.” Proceedings of the National Academy of Sciences 107.5 (2010): 1860-1863.
Cheryan, Sapna, et al. “The stereotypical computer scientist: Gendered media representations as a barrier to inclusion for women.” Sex roles 69.1-2 (2013): 58-71.
Concannon, James P., and Lloyd H. Barrow. “Men’s and women’s intentions to persist in undergraduate engineering degree programs.” Journal of Science Education and Technology 19.2 (2010): 133-145.
Heilman, M. E., Wallen, A. S., Fuchs, D., & Tamkins, M. M. (2004). Penalties for success: Reaction to women who succeed in male gender-typed tasks. Journal of Applied Psychology, 89(3), 416–27.
Hill, Catherine, Christianne Corbett, and Andresse St Rose. Why So Few? Women in Science, Technology, Engineering, and Mathematics. American Association of University Women. 1111 Sixteenth Street NW, Washington, DC 20036, 2010.
Hyde, Janet S., Elizabeth Fennema, and Susan J. Lamon. “Gender differences in mathematics performance: a meta-analysis.” Psychological bulletin 107.2 (1990): 139.
Isaac, Carol, Barbara Lee, and Molly Carnes. “Interventions that affect gender bias in hiring: a systematic review.” Academic Medicine 84.10 (2009): 1440-1446.
Moè, Angelica. “Gender difference does not mean genetic difference: Externalizing improves performance in mental rotation.” Learning and Individual Differences 22.1 (2012): 20-24.
Moss-Racusin, Corinne A., et al. “Science faculty’s subtle gender biases favor male students.” Proceedings of the National Academy of Sciences 109.41 (2012): 16474-16479.
Niederle, Muriel, and Lise Vesterlund. “Explaining the gender gap in math test scores: The role of competition.” The Journal of Economic Perspectives (2010): 129-144.
Sadker, Myra, and David Sadker. Failing at fairness: How America’s schools cheat girls. Simon and Schuster, 2010.
FRANCES TRIX and CAROLYN PSENKA Exploring the Color of Glass: Letters of Recommendation for Female and Male
Medical Faculty, Discourse Society 2003 14: 191, DOI: 10.1177/0957926503014002277
WSF siehe Hill et al.
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