Stellt euch also einen Wassertropfen vor (oder für den Frost auf der Scheibe den in der Luft gelösten Wasserdampf, aber ich bleibe mal beim Tropfen, die Logik ist dieselbe), den ihr abkühlt. Wenn ihr genau Null Grad erreicht, dann sollte der Tropfen eigentlich gefrieren (weil das energetisch günstiger ist (oder noch genauer gesagt – siehe den oben verlinkten Artikel und die zugehörige Serie, die ihr rechts unter Artikelserien findet – weil die Freie Energie des festen Zustandes dann kleiner ist als die des flüssigen Zustands.)) Wenn ihr die Temperatur eine Winzigkeit unter Null Grad absenkt, dann ist aber der Gewinn, den ihr habt, auch nur sehr klein. Mit anderen Worten: Die treibende Kraft für den Prozess (wobei man sich unter Kraft jetzt nicht das vorstellen sollte, was man in der Mechanik mal in der Schule gelernt hat, sondern einfach den Energiegewinn, der den prozess antreibt) ist sehr klein. Das ist auch genau der Grund, warum man in der Theorie unendlich lange warten muss – dann setzt sich auch der unendlich kleine Vorteil schließlich durch.

In einem realen Wassertropfen geht die Umwandlung aber natürlich an irgendeinem Punkt los und breitet sich von dort aus – der ganze Wassertropfen erstarrt nicht schlagartig zu Eis. Und das verkompliziert die Sache ein wenig. Stellt euch vor, irgendwo in unserem Tropfen findet sich in paar Wassermoleküle zusammen und bilden einen winzigkleinen Eiskristall, der nur aus einer Handvoll Moleküle besteht. An der Grenze zwischen unserem Eiskristall und dem flüssigen Wasser drum herum gibt es jetzt ein Problem – die perfekt geordneten Eiskristalle und die drum herum schwimmenden Wassermoleküle passen in der Anordnung nicht optimal zusammen. Die Grenzfläche zwischen beiden ist deshalb energetisch ungünstig. Unser winzig kleiner Eiskristall braucht deshalb auch ein wenig Energie, um sich zu bilden.

Wir haben jetzt also zwei Energien (genau gesagt sind das Freie Energien): Einerseits gewinnen wir Energie, weil der Eiskristall energetisch günstiger ist als das flüssige Wasser, aber wenn der Eiskristall in flüssiges Wasser eingebettet ist, dann brauchen wir auch Energie, um die Grenze zwischen den beiden Bereichen zu bilden. Der erste Energieterm ist proportional zum Volumen unseres Kristalls, der zweite aber zur Oberfläche. Und jetzt kommt eine Beziehung ins Spiel, die auch in ganz anderen Bereichen der Wissenschaft wichtig ist: Das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen.

Stellt euch dazu einen kleinen und einen großen Würfel vor, so wie hier:

wuerfelSkalierung2

Wenn ihr den großen Würfel aus acht kleinen zusammensetzt, dann seht ihr, dass viele der Oberflächen der kleinen Würfel Innen landen – der große Würfel hat das achtfache Volumen des kleinen, aber nur die vierfache Oberfläche. Je größer ein Würfel wird, um so kleiner ist seine Oberfläche im Verhältnis zum Volumen. Und das gilt nicht nur für Würfel, sondern für alle denkbaren Formen von Körpern.

Und es gilt auch für unseren kleinen Eiskristall, der gerade versucht, sich zu bilden. Ist er sehr klein, dann hat er eine große Oberfläche im Verhältnis zu seinem Volumen. Die Energie der Grenzfläche ist deswegen groß, so dass der Kristall insgesamt energetisch ungünstig ist. Ist der Kristall dagegen groß, ist seine Oberfläche vergleichsweise klein und er ist energetisch günstig. Ich klaue mal ein Bild bei mir selbst, um das zu erklären:

energieaenderung

(Leicht verändert aus Rösler, Harders, Bäker “Mechanisches Verhalten der Werkstoffe”, Springer-Vieweg Verlag)

Hier ist auf der horizontalen Achse der Radius des (als kugelförmig angenommenen) Kristalls aufgetragen, auf der senkrechten Achse die Energieänderung gegenüber dem Ausgangszustand. (Eigentlich haben wir das Bild für die Ausscheidung von Teilchen in Metallen gemalt, dazu nachher mehr, aber die Logik ist dieselbe.) Die kurz-gestrichelte Linie (die immer weiter anwächst) gibt die Energieänderung für die Oberflächenenergie an, die langgestrichelte Linie (die nach unten geht) die für den Energiegewinn, weil der Kristall günstiger ist als die Flüssigkeit. Die durchgezogene Linie ist die Summe aus beiden.

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Kommentare (19)

  1. #1 Sebastian Fettig
    3. Februar 2015

    Toller Artikel! Die Körnergröße ist demnach auch der Grund, warum Messer aus xfach gefaltetem Damaststahl so zäh sind?

    Kleine Anmerkung: In den Wärmekissen ist m.E. kein Polymer sondern ganz einfaches Natriumacetat: https://de.wikipedia.org/wiki/Latentw%C3%A4rmespeicher#W.C3.A4rmekissen

  2. #2 MartinB
    3. Februar 2015

    @Sebastian
    Das mit dem Damast ist komplizierter – da kommt hinzu, dass man zwei unterschiedliche Stahlsorten hat, eine hart, aber spröde, die andere zäh, aber weniger hart; die werden beim Falten extrem fein “vermischt”. Das im Detail zu erklären wäre ein Artikel für sich…

    Danke für die Korrektur mit dem Wärmekissen, hab’s gleich mal geändert.

  3. #3 Sebastian Fettig
    3. Februar 2015

    “Das im Detail zu erklären wäre ein Artikel für sich…”

    Würde ich gerne lesen!

  4. #4 ImNetz
    3. Februar 2015

    Den im ersten Teil des Artikels erwähnten Sachverhalt mit dem minimalen Energiegewinn beim Phasenübergang flüssiges Wasser –> Eis, scheint auszureichen um es technisch im s.g Eisspeicher kommerziell zu nutzen.
    Link:
    https://www.oecosys.com/1/Members/norghean/solar-eisspeicher-system
    Oder habe ich etwas falsch verstanden?

  5. #5 CM
    3. Februar 2015

    Schon bei den Hauswänden hat mich der Artikel gepackt: Schließlich profitieren meine Nachbarn davon – ich aber muß etwas freier stehen und jeden Morgen kratzen (wenn ich nicht mit der Bahn fahre, was leider organisatorisch nicht immer klappt).

  6. #6 Turi
    4. Februar 2015

    Ich persönlich finde Kaltverformung (also das Härten durch einbringen von Versetzungen) einen sehr unbefriedigenden Prozess. Ist ein wenig so als würde man ein Fenster einwerfen um es zu öffnen. Man hat zwar frische Luft, aber wehe man möchte es wieder zu machen. Ein kaltverformtes Bauteil ist danach leider auch viel spröder.

    Feinkristallhärtung ist da viel eleganter.

    *Natürlich haben beide verfahren ihre Berechtigung und gemeinsame bzw. unterschiedleiche Einsatzmöglichkeiten. Hier geht es nur um meine persönlichen vorlieben.

  7. #7 MartinB
    4. Februar 2015

    @ImNetz
    Beim Phasenübergang Wasser-Eis wird eine Menge Energie gespeichert, die Wärmemenge zum Schmelzen von Eis ist ziemlich groß – deswegen kann man ja auch ein Getränk mit Eiswürfeln kühlen.
    Klein ist (jedenfalls genau am Phasenübergang, also bei knapp Null Grad) der Gewinn an *freier Energie*, der als treibende Kraft wirkt.

    @Turi
    Irgendwo stimme ich dir ja zu, dass Verformungsverfestigung nicht so richtig elegant ist, aber am Ende zählt, ob’s funktioniert…

  8. #8 Mike Macke
    4. Februar 2015

    Wahrscheinlich ein Thema für einen eigenen Artikel: Aber wie läuft das eigentlich bei Glas? Ich meine mich zu erinnern, dass da gerade keine Kristallisation stattfinden soll, ungefähr so wie bei unterkühltem Wasser, bloß dass das “flüssige unterkühlte” Glas bei Raumtemperatur deutlich zähflüssiger (und somit fest) ist.
    Umd umgekehrt: Wie erreicht man eigentlich Einkristalle (“große Schneeflocken”)? Ist zwar bei Schnee weniger wichtig, aber z.B. bei Silizium.
    Jedenfalls vielen Dank für die Erläuterungen!

  9. #9 MartinB
    4. Februar 2015

    Richtig, Glas ist amorph, hat also keine eindeutige Kristallstruktur. Es ist aber bei RT keine Flüssigkeit, sondern eben ein amorpher Festkörper.

    Einkristalle erzeugt man z.B. mit dem Bridgmann-verfahren:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Bridgman-Stockbarger-Methode
    Entscheidend ist, dass man den Prozess so führt, dass eben nur ein einziges Korn gegen die anderen gewinnt.

  10. #10 haarigertroll
    4. Februar 2015

    Tststs, dabei weiß doch jeder dass das mit dem Kristallwachstum ganz wesentlich von den positiven Gefühlen und so abhängt!
    Ich sehe schon den Titel eines Forschungsantrages vor meinem geistigen Auge: “Anwendung des Emoto-Effektes auf die Ausscheidungshärtung von Aluminiumlegierungen – Einfluss klassischer Musik auf die Streckgrenze und Bruchdehnung”

    P.S. Wer Ironie findet, darf sie behalten 😉

  11. #11 MartinB
    4. Februar 2015

    @haarigertroll
    So wie das hier?
    https://www.weltimtropfen.de/
    Den Prof kenne ich sogar persönlich…

  12. #12 Spritkopf
    4. Februar 2015

    @MartinB

    Ein Kopfsalat wird zwei Minuten lang einer Handystrahlung eines normalen Mobilfunkgerätes ausgesetzt und danach in Wasser gelegt. Von diesem Wasser nimmt man eine Probe, tropft mehrere Tropfen Wasser auf einen Objektträger auf und schaut diese unter dem Dunkelfeldmikroskop an. Diese Tropfen zeigen deutlich andere Strukturen im Tropfeninneren als ein Wasser, in dem zuvor der gleiche Salat vor seiner Handybestrahlung gelegen hat. Das heißt: Das Wasser “erkennt” oder “merkt sich”, dass der Salat Handy “gehört” hat und spiegelt diese gewonnene Information in einem veränderten Tropfenbild wider.

    Das ist doch Satire, oder? Da bringt jemand haarsträubende Absurditäten unters Volk und will einfach nur erforschen, was ernstgenommen wird und bei wievielen Leuten der Bullshit-Detektor anschlägt.

    Das kann nichts anderes als Satire sein.

  13. #13 MartinB
    4. Februar 2015

    @Spritkopf
    Leider nein, wie gesagt, ich kenne den Herrn persönlich.

  14. #14 JanJanJanJan
    NajNajNaj
    5. Februar 2015

    zu
    https://www.weltimtropfen.de/

    Ist das denn “alles” Mumpitz?

    So richtig hilft mir der Psiram (ehemals Esowatch) Artikel auch nicht weiter.

    Gibt es bei so etwas eigentlich nie jemanden, der das mal versucht zu reproduzieren?

    Jan

  15. #15 MartinB
    5. Februar 2015

    @Jan^4
    Naja, wenn ich mir das ansehe:
    “https://www.weltimtropfen.de/forschung_individuen.html”
    dann wäre das allenfalls als Übung für Studis zum Thema “Wie sollte ich eine Studie nicht designen” zu gebrauchen…

  16. #16 rolak
    5. Februar 2015

    Übung für Studis

    Aber nicht doch, MartinB, zumindest nicht ausschließlich. Nein, gerade weil der Untersuchungs-Aufbau so sturzsimpel ist, kann das Geschehen von jedem reproduziert werden, bis runter zur Grundschule. Ab Mittelstufe vieleicht mit einer Liste der üblichen Fehler – um dann erklären zu lassen, wie versucht wurde, sie zu verhindern. Gab schon ziemlich lange Gesichter bei den Reproduktionsversuchen 😉

    So bleiben als Antworten auf die drei Sätze von Jan ziemlich offensichtlich: 1) Ja, 2) Schade, 3) Warum machst Du es nicht selber?

  17. […] habe ich ja gerade erklärt, wie sich Kristalle bilden. Im Prinzip dieselbe Logik wendet man auch hier an. Zunächst wird das Material bei niedriger […]

  18. #18 Frank
    12. Februar 2015

    Sehr anschaulicher Artikel.
    Der Link auf die eisfreie Scheibe vom Fraunhofer läuft allerdings ins leere.
    Weißt du was die Marktreife angeht da genaueres? Schon 2010 gab es ja Artikel mit dem Tenor “eisfreie Scheibe quasi marktreif”.
    Das würde mich jetzt doch mal interessieren, ob es da an Lobby oder Wissenschaft scheitert.
    Die Lobby der Autofahrer kann es jedenfalls nicht sein 😉

  19. #19 MartinB
    12. Februar 2015

    @Frank
    Details weiß ich leider nicht, aber so wie ich es verstanden habe, ist es ein technisches Problem, das ganze in großem Maßstab bezahlbar umzusetzen.