Später schreibt Stichweh dann
Damit tritt eine autodidaktische Universität an die Stelle der Anwesenheitsinstitution
Ich weiß nicht, wie es bei euch war (falls ihr studiert habt) – aber bei mir war das Lernen für die Uni immer im wesentlichen ein autodidaktisches Erlebnis. Klar, es gab Vorlesungen, da bekam man mit, was wichtig war und was nicht, aber das eigentliche Lernen vollzog sich zum großen Teil außerhalb des Hörsaals am Schreibtisch – allein oder mit den KommilitonInnen. Und auch ein Blick in aktuelle Modulbeschreibungen belegt das – der Lernaufwand für eine typische Vorlesung bei uns wird mit 150 Stunden (5 “Leistungspunkte”) angesetzt – davon entfällt weniger als ein Drittel auf die zwei Stunden Vorlesung plus eine Stunde Übung pro Woche.
Meine eigene Erfahrung an der Uni (als Studi, vor laaaanger Zeit) war so, dass ich in den meisten Vorlesungen immer brav anwesend war. Es gab aber auch Ausnahmen – beispielsweise die Quantenmechanik-Vorlesung. Der Prof dort hatte einen – für mich, andere fanden ihn gut – so wirren Vortragsstil, dass ich nach einigen Wochen nicht mehr hingegangen bin und mich lieber mit einem Kumpel in die Cafeteria zurückgezogen habe, um dort das berühmte Lehrbuch von Landau/Lifshitz zu lesen und zu diskutieren. In anderen Vorlesungen war ich teilweise zwar physisch anwesend, hörte aber nur mit halbem Ohr zu. (Auch eine Gefahr der Anwesenheitspflicht – man gerät in versuchung zu denken, man habe allein durch körperliches Da-sein schon etwas geleistet.) Und zu jedem Semesteranfang habe ich mitgeholfen, die neuen Studis zu betreuen und habe meist die ersten ein oder zwei Vorlesungen verpasst – ein Problem war das eigentlich nie. Warum also soll die Anwesenheit so wichtig sein?
Dieser Satz hier lässt aufhorchen:
Vermutlich sollen die Studierenden für andere Engagements freigesetzt werden, was einen prinzipiellen Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Universität dokumentiert.
Hmm – vielleicht geht es eigentlich um etwas ganz anderes bei Stichwehs Verteidigung der Anwesenheitspflicht? Studierende werden freigesetzt für andere Engagements. Da es vermutlich nicht das Ziel der Landesregierung von NRW ist, die Studis zu anderen Tätigkeiten zu verpflichten, bedeutet das doch wohl, dass die Studis selbst entscheiden können, was sie mit ihrer Zeit anfangen. Und da mag es ja gute Gründe geben, nicht zu einer Vorlesung zu kommen – vielleicht muss jemand sein Studium durch abendliches kellnern finanzieren und ist morgens einfach zu müde für den Hörsaal. Oder jemand hat Kinder, die betreut werden müssen. Oder jemand lernt einfach besser aus Büchern als aus Vorlesungen – vielleicht, weil man dort alles zwei Mal lesen kann oder weil dort Argumente oft sauberer formuliert werden können als in frei gesprochenen Vorlesungen (wo man sich ja manchmal auch beim Erklären verhaspelt – ich jedenfalls). Oder weil jemand ein Sprachproblem hat. Oder jemand war am abend vorher schlicht auf der Audimax-Party.
Eigentlich geht hier meiner Ansicht nach um Macht – wenn Vorlesungen verpflichtend sind, dann muss der Dozent oder die Dozentin die Studis nicht überzeugen, dass ein Besuch der Vorlesung sinnvoll ist, die haben ja eh keine Wahl. Ohne Anwesenheitspflicht dagegen konkurriere ich als Dozent mit Skript, Buch oder Lerngruppe und muss mir entsprechend Mühe geben, um die Studis zu überzeugen, tatsächlich zu kommen. Und wenn nach einigen Wochen die Zahl der Studis plötzlich drastisch schrumpft, dann muss ich mich möglicherweise der Tatsache stellen, dass meine Vorlesung nicht ankommt.
Meiner Ansicht nach sollte man Studis wie Erwachsene behandeln, die selbst wissen, was richtig für sie ist und die selbst entscheiden können, welche Lernform die Richtige ist. Deswegen gibt es Skripte oder Bücher für diejenigen, die an meiner Vorlesung nicht teilnehmen können oder wollen (vielleicht passt auch jemandem mein Vortragsstil nicht). Wer nicht kommt, von dem nehme ich an, dass er einen guten Grund dafür hatte (und sei es die Audimax-Party, man ist ja nur einmal jung). Klar, die Erfahrung zeigt, dass trotz aller Skripte und Bücher die Anwesenheit in der Vorlesung hilft, insbesondere dabei, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und Zusammenhänge herzustellen (das ist in Büchern manchmal nicht so einfach), aber es geht auch ohne – wie übrigens einige Studis in der Vergangenheit bewiesen haben, die nur mit Hilfe von Skript und elektronischer Unterstützung die Prüfung erfolgreich absolviert haben. Vorlesungen sind ein Lehrangebot- nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wem das Angebot nützt, der nimmt es wahr, wer lieber anders lernt, der möge das tun.
Kommentare (36)