Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.
M. Claudius Abendlied, 3. Strophe
Sehen
Vor mir liegt eine Tastatur, auf der ich tippe. Dass sie da ist, kann ich direkt sehen – ich sehe die einzelnen Tasten, den Rand der Tastatur usw. Um sicherzugehen, dass die Tastatur auch wirklich da ist, wo ich sie vermute, kann ich auf ihr tippen (so wie jetzt) – dann spüre ich auch den Kontakt mit den Tasten und sehe, dass auf meinem Bildschirm Zeichen erscheinen. All diese Beobachtungen zusammengenommen, erlauben mir den Schluss, dass die Tastatur wirklich da ist.
Nebenbemerkung: Ja, ich weiß, ich könnte auch ein Gehirn im Tank sein oder etwas ähnliches – das Argument ignoriere ich hier aus gutem Grund: Selbst wenn das so wäre, wäre die Tastatur im Rahmen der “virtuellen” Welt, in der ich mich dann befinden würde, real, und es ist davon auszugehen, dass irgendwo im Speicher des diese Welt simulierenden Computers ein codefragment der Art
class Keyboard...;
Keyboard martinsKeyboard(keyboardType, computerTable);
abgespeichert ist. In dem Sinne ist also die Tastatur ein existierendes Objekt – unabhängig davon, in welcher Weise diese Existenz sich manifestiert. Diesen Aspekt werde ich deshalb im Folgenden weitgehend ignorieren. Ende der Nebenbemerkung
Wenn ich kurz aus dem Augenwinkel dem Fenster schaue, sehe ich den Kirschbaum in meinem Garten. Von hier aus kann ich ihn aber nicht anfassen. Dass in meinem Garten wirklich ein Kirschbaum steht, weiß ich aber, weil ich vor ein paar Wochen noch leckere Kirschen pflücken konnte, weil irgendwann mal Eulen drin gesessen haben, weil ich früher öfters eine Hängematte und Kletterseile drangeknotet habe und und und. Wenn ich jetzt also aus dem Fenster schaue, dann kann ich davon ausgehen, dass das, was ich sehe, tatsächlich meine Kirsche ist. Den Kirschbaum aus dem Fenster heraus zu sehen, erscheint mir also normal und passt in das, was ich über die Welt weiß. Deswegen kann ich das Sehen des Kirschbaums als Indiz dafür nehmen, dass er wirklich noch da ist, obwohl ich ihn heute noch nicht angefasst habe.
Nehmen wir an, ich würde aus dem Augenwinkel aus dem Fenster schauen und würde in meinem Garten statt des Kirschbaums plötzlich einen Plateosaurus (einer meiner Lieblingsdinos) herumspazieren sehen. Wie würde ich reagieren? Erst einmal würde ich den Kopf drehen und genau hinschauen – habe ich den Plateosaurus wirklich gesehen? Oder sah da aus dem Augenwinkel nur etwas aus wie ein Plateosaurus? Wenn ich ihn auch bei genauerem Hinschauen immer noch als Plateosaurus sehe, würde ich vermutlich sofort nach draußen gehen, um zu gucken, ob da tatsächlich etwas herumspaziert. Der Plateosaurus passt so wenig in meine Erwartung dessen, was in meinem Garten los sein sollte, dass ich zusätzliche Untersuchungen anstellen würde, um sicherzustellen, dass er wirklich da ist. Ich würde also erst mal auf den Balkon gehen, ihn mir genauer anschauen, sehen, wie er sich bewegt, vielleicht ein Geräusch machen, um zu sehen, ob er reagiert (Plateosaurier sind Pflanzenfresser, bei nem T. rex würde ich das mit dem Geräusch lieber bleiben lassen). Bis ich all das getan habe, wäre ich vermutlich sehr skeptisch – läuft da wirklich ein Dino in meinem Garten rum? Ist es ein Dino-Roboter (das würde ich vermutlich eher annehmen)? Oder läuft da gar nichts im Garten herum und ein Scherzkeks hat nur einen superhochauflösenden Bildschirm vor mein Fenster gestellt und darauf einen entsprechenden Film abgespielt (so ähnlich wie in einem aktiven Tarn-System). Oder leide ich gar an einer Halluzination?
Man sieht an diesem simplen Alltagsbeispiel schon, dass “etwas sehen” nicht immer als gleich guter Nachweis gilt. In der Sprache der Wahrscheinlichkeitstheorie könnte ich das mit Hilfe des Satz von Bayes ausdrücken – bevor ich hingeschaut habe, war die Wahrscheinlichkeit, dass meine Kirsche noch in meinem Garten steht, schon sehr hoch, die, dass sich dort ein Plateosaurus aufhält, war dagegen nahe bei Null. Die Wahrnehmung beim Hingucken hat jetzt die Wahrscheinlichkeit erhöht – aber da sie vorher sehr klein war, ist sie hinterher immer noch klein (wenn auch etwas größer), und ich brauche zusätzliche Nachweise, um sicherzugehen, dass da wirklich ein Dino in meinem Garten herumstapft. (Außergewöhnliche Behauptungen brauchen außergewöhnliche Beweise.)
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