Da ich aber ja theoretische Physikerin bin, drücke ich den gleichen Sachverhalt lieber in einer anderen Sprache aus: Dass die Kirsche in meinem Garten steht, entspricht meinem Wissen über die Welt, also der Theorie, die ich darüber, wie mein Garten aussieht, habe. Ein echter Plateosaurus dagegen würde meinem Wissen über die Welt so massiv widersprechen, dass ich vermutlich eher zahlreiche andere Erklärungen für wahrscheinlicher halten würde – der Bildschirm, ein Roboter, eine Halluzination oder ein Traum usw. Erst wenn ich durch diverse andere Untersuchungen sichergestellt hätte, dass der Dino wirklich da ist (ich frage andere Leute, ich rufe schnell die Direktorin des Braunschweiger Naturkundemuseums an, die meine Wahrnehmung bestätigt, ich finde in meinem Garten Fußspuren (oder Häufchen…)), erst dann würde ich irgendwann akzeptieren, dass das, was ich zu wissen geglaubt habe (Plateosaurier sind vor etwa 200 Millionen Jahren ausgestorben) anscheinend doch nicht stimmt.
Bereits an diesem einfachen Beispiel wird eins deutlich: “Etwas sehen” ist (nahezu) nie ein rein passiver Prozess – ich sehe “den Kirschbaum” in meinem Garten, aber tatsächlich empfängt meine Netzhaut ein paar Lichtsignale, die allenfalls einer zweidimensionalen Abbildung des Kirschbaums entsprechen; dass ich tatsächlich “den Kirschbaum” zu sehen glaube, liegt eben daran, dass die Lichtsignale entsprechend interpretiert werden. (Jede, die schon mal bei einer Bildbearbeitung versucht hat, einen Menschen oder ein anderes Objekt freizustellen, weiß, dass das, was wir ganz automatisch als Objekt erkennen und abgrenzen, ohne entsprechendes theoretisches Wissen eben nicht leicht eindeutig abzugrenzen ist – einen Algorithmus, der mit der gleichen Sicherheit z.B. einen Haarschopf vom Hintergrund eines Fotos trennen kann, wie wir das können, gibt es bisher leider nicht. (Falls doch: sagt bitte Bescheid, kann ich gut gebrauchen.))
Bei den Objekten unseres Alltags ist uns das meist so selbstverständlich, dass wir nicht darüber nachdenken, dass zum Sehen auch immer das “Verstehen” oder “Wissen” dazugehört – bewusst wird uns das allenfalls bei “optischen Täuschungen” oder Illusionen wie zum Beispiel dieser hier:
„Cup or faces paradox“ von Bryan Derksen – Original image Image:Cup or faces paradox.jpg uploaded by User:Guam on 28 July 2005, SVG conversion by Bryan Derksen. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.
In diesem bekannten Bild könnt ihr entweder eine weiße Vase vor schwarzem Hintergrund sehen, oder zwei schwarze Gesichter vor einem weißen Hintergrund – man kann das Bild auch zwischen beiden Interpretationen “springen” lassen. Obwohl sich das Bild auf eurer Netzhaut nicht ändert, ändert sich doch der Eindruck dessen, was ihr wahrnehmt.
Fazit: Was wir “sehen”, hängt also immer auch davon ab, was wir zu sehen erwarten, oder anders gesagt davon, welche Theorie wir über die Welt bereits haben. Und dieses Prinzip gilt immer noch, wenn wir versuchen, Dinge wahrzunehmen (zu “sehen”), die nicht sichtbar sind.
Schallbilder
Nicht nur Fledermäuse oder Wale, auch wir Menschen verwenden manchmal nicht Licht, sondern Schall, um Dinge zu sehen. Ein Beispiel, das ihr vermutlich alle kennt, sind Ultraschallbilder in der Medizin – sei es (meist erfreulich), um damit den Embryo oder Fötus im Mutterleib sehen zu können oder (oft weniger erfreulich) um Knoten oder Geschwüre zu finden. Warum vertrauen wir diese Bildern von etwas, das doch unsichtbar im Körper verbogen ist? Schlicht deswegen, weil die Technik natürlich getestet wurde, indem man nachgeprüft hat, dass man Strukturen, von denen man weiß, dass sie da sind, auch tatsächlich sehen kann. Wenn ich im Ultraschallbild die Niere oder ein großes Blutgefäß sehen kann, und zwar genau da, wo sie auch sein sollten, dann darf (oder muss) ich eben auch glauben, dass mir das Bild auch Dinge zeigen kann, von denen ich nicht sicher bin, dass sie da sind (wie eben Embryo oder Geschwür).
Eine gewisse Vorsicht ist auch dabei geboten – eine Kollegin erzählte einmal, dass die Ärztin auf dem Ultraschallbild einen verdächtigen Schatten gesehen hatte und sie zur Spezialistin weiter überwiesen hat. Die Spezialistin konnte nichts finden, und die Kollegin bemerkte, dass das Bild bei der ersten Ärztin ganz anders ausgesehen hatte. “Etwa so?”, fragte die Spezialistin und neigte den Schallkopf etwas, so dass ein Scheinreflex zu sehen war.
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