Das Schöne an Computersimulationen ist ja, dass man so etwas leicht überprüfen kann – in einem Experiment kann man die Wärmeausdehnung eines Materials nicht mal eben schnell an- oder ausknipsen, in der Simulation aber schon. Und siehe da – egal ob ich die Ausdehnung ein- oder ausschaltete, die Späne sahen am Ende nahezu gleich aus. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte ich jetzt eine interessante Arbeitshypothese gehabt (die Spanbildung hängt auch von der Wärmeausdehnung ab) – aber so war es eben nicht. Idee falsifiziert, und dann lieber andere Dinge angeguckt.
Aber so ganz einfach ist es mit dem Falsifizieren nicht immer, wie man an diesem Beispiel hier sieht: Ich simuliere mal wieder die Spannung in Wärmedämmschichten und überlege, welchen Einfluss zum Beispiel die Festigkeit eines der beteiligten Materialien haben sollte. Wie immer bei solchen Simulationen ist es sinnvoll, sich erst mal zu fragen, was man erwartet. Ich überlege also zum Beispiel “Aha, wenn man die Festigkeit der Haftvermittlerschicht herabsetzt, sollte sie die darüberliegende Wärmedämmschicht weniger unter Spannung setzen, also sollte deren Spannung abnehmen.” Dann stelle ich fest, dass das – zumindest in bestimmten Situationen- nicht so ist. Meine Idee ist damit falsifiziert.
Oder auch nicht? Natürlich ist es immer eine gute Idee, zu verstehen, warum die eigene Intuition in die Irre gegangen ist – ich habe mir also die verschiedenen Rechnungen nochmal genau angeguckt und im Detail ausgewertet. Ich hatte übersehen, dass es noch eine weitere Schicht gibt, deren Spannungen der Haftvermittlerschicht entgegenwirken. Wenn diese weitere Schicht hinreichend dick ist, dann erzeugt sie große Spannungen – eine Haftvermittlerschicht mit höherer Festigkeit kann dem mehr entgegensetzen und reduziert die Spannungen deshalb wieder.
Meine ursprüngliche Idee war also richtig, aber sie galt eben nur in bestimmten Fällen. Habe ich die Idee jetzt falsifiziert oder verifiziert? Immerhin brauchte ich eine zusätzliche Überlegung, die ich auf die alte Hypothese draufsatteln musste, um sie zu retten – ist das nicht eigentlich etwas, das man nicht tun sollte (widerlegte Hypothesen durch Zusatzüberlegungen retten, statt sie aufzugeben)? Offensichtlich nicht – denn die beiden Ideen fügten sich nahtlos zusammen – jedes der Materialien hat einen Einfluss auf die Wärmedämmschicht, die beiden Einflüsse sind entgegengesetzt und die jeweilige Schichtdicke entscheidet, wer gewinnt.
So etwas passiert oft: Eine ursprüngliche Idee wird durch Überprüfen streng genommen falsifiziert, wird aber durch zusätzliche Argumente und Überlegungen doch noch gerettet. Das ist dann in Ordnung, wenn man nicht für jede neue Beobachtung eine neue Hypothese dazupacken muss (so wie bei Hahnemann), sondern das ganze sich im Rahmen hält. Wenn ich für jede Spannungssimulation neue oder andere Argumente brauche, um die Beobachtung an meine Hypothese anzupassen, dann taugt das natürlich wenig – wenn ich aber mit einigen wenigen Annahmen, die sich erst in ihrer Gesamtheit entwickeln müssen, am Ende eine große Zahl von Beobachtungen erklären kann, dann ist es durchaus in Ordnung, dass ich zwischendurch zu einfache Hypothesen hatte, die als Gesamterklärung nicht ausreichen und widerlegt wurden, die aber als Bestandteil der Erklärung dazugehören. (Anders als beim Entwickeln fundamental neuer Theorien habe ich natürlich hier den Vorteil, dass der generelle theoretische Rahmen, in dem ich mich bewege, gut bekannt und erforscht ist.)
Generell sollen wir ja auch unsere Überlegungen so planen, dass wir versuchen, unsere Hypothese zu widerlegen. Aber nicht immer ist die Grenze zwischen Falsifizieren wollen und bestätigen wollen klar: Diesen Sommer habe ich mit einer Kollegin (ja, generisches Femininum) zusammen eine Idee entwickelt, wie man die mikroskopische Struktur einer mit einem speziellen Verfahren hergestellten Schicht erklären kann. Mit etwas Überlegung und Dank fleißiger Literaturrecherche (die nicht ich gemacht habe, muahaha), fanden wir eine mögliche Erklärung, die für einen Teil der Strukturen funktionierte und insbesondere erklären konnte, warum wir dort eine dreizählige Symmetrie beobachteten. Das allein ist natürlich allenfalls ne Hypothese – jetzt ging es darum, die zu überprüfen.
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