Unter anderen Herstellparametern sah die Schicht anders aus, er ergab sich dann nämlich eine vierzählige Symmetrie. Mit Hilfe einer Messung für die Kristallorientierung ergab sich diese vierzählige Symmetrie direkt aus unserer Überlegung. Zusätzlich konnte unsere Überlegung etwas über die Winkel in dieser Struktur vorhersagen (die wir bisher nicht so genau angeguckt hatten) – quantitativ messen lassen sich die zwar nur schwer, aber qualitativ passten auch die Winkel zu dem, was wir uns überlegt haben.
Hier kann man jetzt streiten, ob wir wirklich eine echte Falsifizierung versucht haben. Hätte es bei der vierzähligen Symmetrie nicht gepasst, hätten wir unsere Theorie ja nicht unbedingt gleich verworfen, sondern wohl auch eine Begründung gesucht, warum der Mechanismus nur bei bestimmten Bedingungen so abläuft, bei anderen nicht. (Das wäre natürlich möglich, die Welt ist ja nicht immer einfach…) War das nun echte Falsifizierung? Oder eher ein Versuch, eine Theorie zu bestätigen? Schwer zu entscheiden – immerhin war die Überprüfung der zweiten Struktur geeignet, den Gültigkeitsbereich der Theorie, die wir für die Schichtbildung hatten, einzuschränken. Konzeptionell hilft der Gedanke “Hmm, wenn das jetzt nicht passt, dann hat unsere Idee ein Problem” auf jeden Fall weiter, um schnell zu sehen, an welcher Stelle man gucken muss.
Auch beim Planen der Forschung hilft die Idee der Falsifikation durchaus weiter – leider fällt mir gerade kein passendes Beispiel aus meiner eigenen Praxis ein, deswegen halte ich es hier mal allgemein. Wenn wir nach aktueller Arbeitshypothese erwarten, dass unter einer bestimmten Versuchsbedingung X passiert, dann ist es immer gut, sich schon vorher zu fragen: “Was würde ich tun, wenn ich nicht X beobachte, sondern etwas anderes? Würde ich das als Problem oder Widerlegung meiner Arbeitshypothese betrachten, oder könnte ich das auch im Rahmen meiner Hypothese problemlos erklären?” Und falls letzteres der Fall ist, dann kann man sich das Experiment möglicherweise gleich sparen und lieber etwas anderes tun.
An diesen Beispielen aus dem Forschungsalltag sieht man vor allem eins: Die Trennung zwischen Falsifikation und dem Versuch, eine Theorie zu bestätigen, ist nicht so scharf, wie man vielleicht rein theoretisch denken könnte. Manchmal reicht ein Ergebnis aus, um mich davon zu überzeugen, dass eine Idee nichts taugt (wie die mit der Wärmeleitung bei der Zerspanung), manchmal führt die Falsifikation dazu, dass man seine anfängliche Hypothese erweitern und zusätzliche Annahmen einführen muss, manchmal klappt auch alles, die Falsifikation scheitert – mit anderen Worten, die Hypothese wird erst einmal bestätigt. (So wie Gelilei es im Theaterstück – wirklich etwas theatralisch – ausgedrückt hat.)
Wenn wir noch einmal auf den Satz oben von Wikipedia zurückkommen – habe ich nun echt falsifiziert (bzw. es versucht)? Oder habe ich eher induktiv-empiristisch bestätigt und lediglich (im Sinne von Bayes Wahrscheinlichkeitstheorem) die Wahrscheinlichkeit angepasst, mit der ich eine Hypothese für wahr halte?
Ehrlich gesagt tue ich mich schwer mit dieser Frage. Empirisch ist sie kaum zu beantworten, weil die Grenzen ja letztlich fließend sind – wann ist eine Theorie so unwahrscheinlich geworden oder braucht so viele weitere Annahmen, dass sie als falsifiziert gelten kann? Und – noch schwieriger – wie sollte man empirisch herausfinden, was tatsächlich in mir vorging und welche Gedanken ich genau verfolgt habe?
Auch introspektiv lässt sich die Frage kaum klären – ganz abgesehen davon, dass das natürlich eine rein subjektive Selbstwahrnehmung ist. Ich denke oft an das Konzept “Falsifikation”, gerade wenn ich neue Experimente oder Simulationen plane, um eine Hypothese auf den Prüfstand zu stellen. Aber ob ich da eigentlich doch bestätigen will und das Ganze nur nach Popper umformuliere, so wie es bei Wiki steht, oder ob ich wirklich zu falsifizieren versuche – wie will man das entscheiden? Vermutlich ist sogar beides richtig – immerhin ist unser Bewusstsein und Verstand kein monolithischer Block, sondern besteht aus unterschiedlichen und widerstreitenden Aspekten (oft “Agenten” genannt, was aber nix mit Geheimdiensten zu tun hat). Gut möglich also, dass es da den Falsifizierungs-Agenten gibt, der gern Dinge kaputtmacht (und eigentlich liebe ich es, argumentativ Dinge zu zerlegen), und auch den Bestätigungs-Agenten, der an meiner aktuellen Hypothese hängt und diese gern untermauert sehen würde.
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