Mit vielen Schülerinnen, die man bewerten muss, ist das aber so einfach nicht mehr möglich. Und deswegen sucht man eben nach einer anderen Möglichkeit, das Wissen zu quantifizieren und landet bei der Idee einer Prüfung. Diese findet unter künstlichen Bedingungen statt, die nicht unbedingt dem entsprechen, was die Schülerinnen wirklich an Wissen und Fähigkeiten brauchen (darauf zielte ja auch Jürgens Text ab), aber sie sind eben einfach durchzuführen und auszuwerten.
Wir ersetzen also die schwierige Frage (“Was weiß die Schülerin und wie ist ihr Wissen zu bewerten”) durch eine deutlich einfachere (“Wie schneidet sie bei der Klausur ab?”)
Das Messproblem
Aus der Quantenmechanik wissen wir, dass die Messung das Ergebnis beeinflussen kann. Das ist das so genannte Messproblem. Ein ähnliches Problem (naja, die Ähnlichkeit ist nur sehr entfernt…) haben wir bei der Klausur auch. Wenn wir nämlich am Ende eine Klausur schreiben, um daraus eine Note abzuleiten, dann müssen wir die Schülerinnen natürlich auch auf die Klausur vorbereiten. Plötzlich geht es nicht mehr primär um die Vermittlung all des Wissens, das wir eigentlich gern vermitteln wollen, sondern wir konzentrieren uns darauf, das zu vermitteln, was sich auch in einer Klausur abfragen lässt. (Ich versuche, mich zumindest ein wenig gegen diesen Trend zu sperren und halte ab und zu auch mal meinen “Warum es in dieser Vorlesung nicht darum geht, Sie auf eine Klausur vorzubereiten”-Vortrag, aber ganz vermeiden lässt sich so etwas natürlich nicht, das wäre dann wieder unfair den Studis gegenüber.)
Was wir beibringen, ändert sich also so, dass wir uns darauf konzentrieren, genau die Dinge beizubringen, die am Ende auch abfragbar sind. Kreative Lösungen, lange komplexe Gedankenketten, die sich in einer Klausur schwer unterbringen lassen, die Fähigkeit, eine Lösung in einem Dialog zu finden oder sich fehlendes Wissen per Recherche anzueignen, können dann dabei schon einmal unter den Tisch fallen. (Auch das hat Jürgen ja angemerkt.) Hinzu kommt dann noch, dass das Korrigieren einer Klausur ja auch Zeit kostet – die Versuchung ist also groß, die Aufgaben so zu stellen, dass sie sich schnell korrigieren lassen, auch wenn dabei dann vielleicht solche Aufgaben, die viel darüber aussagen, ob jemand etwas wirklich verstanden hat, unter den Tisch fallen.
Klausuren beruhen also letztlich auf einer Verkettung von drei fragwürdigen Schritten: Wir nehmen an, dass die Größe, die uns interessiert, sich mit einer Zahl beschreiben lässt, wir versuchen diese Annahme zu realisieren, indem wir uns ein entsprechendes Messverfahren ausdenken und müssen dann unsere Vorgehensweise so ändern, dass sie diesem Messverfahren angemessen ist.
Aktien
O.k., ich geb’s zu, von Aktien verstehe ich nicht viel (für Werte von “nicht viel” gleich “praktisch nichts”). Aber ich sehe hier einen ähnlichen Mechanismus wirken. Aktuell dienen Aktien ja letztlich dazu, ein Unternehmen zu bewerten. Dahinter steckt schon mal die Annahme, dass eine solche eindimensionale Bewertung möglich ist – Fragen wie Umweltverträglichkeit, Arbeitsklima oder zusätzliche Sozialleistungen für Mitarbeiterinnen zeigen schon, dass das durchaus eine problematische Annahme ist.
Dann geht es um die Frage, wie man den finanziellen Wert des Unternehmens feststellt. Letztlich natürlich dadurch, dass man prüft, was Menschen bereit sind, für das jeweilige Unternehmen (bzw. Anteile an diesem Unternehmen) zu bezahlen. Das führt dann aber dazu, dass es nicht mehr primär darum geht, was ein Unternehmen tatsächlich wert ist, sondern zunächst eher darum, was ich glaube, dass es wert ist. Aber da der Aktienkurs ja nicht durch mich allein gemacht wird, sondern durch alle, die mit Aktien handeln, muss ich mich für erfolgreiches Handeln nicht wirklich fragen, was die Aktie mir wert ist, sondern was ich glaube, dass sie den anderen wert ist. Diese anderen machen aber ja genau das Gleiche. Am Ende geht es also nicht mehr direkt um den Wert eines Unternehmens, sondern darum, was Leute glauben, dass andere Leute glauben, dass ein Unternehmen wert ist. Das sehen wir ja z.B. bei der VW-Aktie – da stehen in Wolfsburg und anderswo ja nicht plötzlich nur noch halb so viele Maschinen rum wie vor ein paar Monaten. (Ja, mir ist klar, dass diese Sicht des Aktienmarktes sehr vereinfacht ist – falls sie wirklich grob falsch sein sollte, beschwert euch in den Kommentaren.)
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