Konsequenzen
Es gibt also eine Eigenschaft eines – zumindest theoretisch denkbaren – physikalischen Systems, die durch keinen mathematischen Algorithmus entscheidbar ist. Für ein bestimmtes konkretes System kann die Frage natürlich immer noch entscheidbar sein, aber nicht für alle. Ob es solche unentscheidbaren Systeme in der Physik unseres Universums gibt, ist eine offene Frage; möglicherweise gehören Yang-Mills-Theorien, die ins Standardmodell der Elementarteilchen eingehen, in diese Klasse der unentscheidbaren Theorien, dort hat jedenfalls noch niemand die Eigenschaften des Energiespektrums berechnen können (falls ihr das in den Weihnachtsferien hinbekommt, winkt ein Preis von einer Million…)
Eine andere wichtige Konsequenz ist die folgende: Die Probleme treten auf, wenn man die Größe des Systems gegen unendlich gehen lässt. Es ist in der Physik eine oft praktizierte Technik, Dinge für immer größer werdende Systeme zu berechnen und dann in Richtung unendlich zu extrapolieren. (Beispielsweise kann man die Eigenschaften von Elementarteilchen auf immer größeren Gittern berechnen und dann am Ende extrapolieren; ähnliches macht man auch in der Festkörperphysik.) Das Ergebnis hier zeigt, dass das nicht unbedingt verlässlich möglich ist. Egal wie groß ihr ein System macht, es ist immer möglich, dass es seine Eigenschaften noch einmal fundamental ändert, wenn das System noch weiter vergrößert wird.
Es könnte tatsächlich Systeme geben, die entsprechend ihr Verhalten ändern, wenn man sie groß genug macht. Ein bisschen so, als würde Wasser zum Beispiel bei 10°C plötzlich zu Eis werden, wenn man nur hinreichen viel Wasser auf einen Haufen bringt. (Das ist jetzt nur eine Analogie, nicht das jemand das missversteht…) Solche Systeme hat man bisher nicht gefunden (man hat aber bisher wohl auch nicht nach so etwas gesucht), es ist aber durchaus möglich, dass es so etwas gibt.
Aber Achtung: Bei aller theoretischen Schönheit des Ergebnisses sollte man – das sagen sogar die Autorinnen selbst – eins im Kopf behalten:
we prove undecidabiltiy of the spectral gap …for Hamiltonians with a very particular form. We do not know how stable the results are to small deviations from this.
Wir beweisen die Unentscheidbarkeit der Energielücke für Hamilton-Operatoren mit einer sehr eigentümlichen Form. Wir wissen nicht wie stabil die Ergebnisse gegen kleine Abweichungen hiervon sind.
Wir brauchen uns nur die Konstruktion anzugucken um zu sehen, dass hier in der Tat ziemlich viel getrickst wurde: Eine Zahl wird in Binärdarstellung als reelle Zahl zwischen Null und Eins umgeschrieben. Wenn wir also eine bestimmte Turingmaschine betrachten, eren Zahl T sehr groß ist, dann muss der Hamilton-Operator auf viele Tausend oder Millionen Stellen hinter dem Komma genau die richtigen Koeffizienten haben (genau genommen sogar auf unendlich viele Stellen genau, denn wenn wir die Maschine “14” aus dem Beispiel oben als 0,0111000… kodieren, dann wäre eben 0.0111000…00100… eine ganz andere Turing-Maschine.
Auch die Konstruktion mit der Kachelung ist ja ziemlich raffiniert – auch da ist es eigentlich schwer vorstellbar, dass es reale Systeme geben soll, bei denen die Energien der Zustände genau passend zu den Farben der Kacheln sind. Ob die Resultate also tatsächlich relevant für unser Universum sind, ist nicht so klar.
Eine Frage der Unendlichkeit
Ein anderer Aspekt, der mir hierzu einfiel, der jedoch in den Artikeln nicht zur Sprache kommt, ist die allgemeine Frage nach der Rolle der Mathematik in der Physik. (Achtung: alles was ab jetzt kommt, ist auf meinen Mist gewachsen, es mag also längst geklärt, widerlegt oder anderweitig Blödsinn sein.) Es gibt ja zum Beispiel die “Tegmark-Hypothese“, die in etwa besagt “Alles was mathematisch möglich ist, existiert auch als physikalische Realität”. Dass die Mathematik unentscheidbare Aussagen enthält, ist ja seit Gödel bekannt, aber Tegmark hat bisher – laut Wikipedia – gesagt, dass es ja denkbar ist, dass nur solche Systeme auch existieren, die entscheidbar sind.
Wenn aber selbst ein Spingitter im Allgemeinen unentscheidbare Eigenschaften hat, erscheint das zumindest mir problematisch – das Grundprinzip eines Spingitters ist ja vergleichsweise einfach. Es sollte also prinzipiell Universen geben, die aus Spingittern bestehen. Wenn es aber nur solche Spingitter-Universen geben kann, die entscheidbar sind (und nicht die komplizierte Konstruktion hier), dann braucht die Natur einen Mechanismus, der entscheiden kann, ob ein bestimmtes Spingitter physikalisch realisiert werden darf (weil es einfach genug ist) oder nicht. Tja, aber diese Frage ist natürlich selbst wieder unentscheidbar, wenn ich es richtig sehe. Insofern scheint mir die Tegmark-Hypothese im Licht dieser Ergebnisse schon problematisch. (Ich bin allerdings voreingenommen, weil ich die Hypothese noch nie machte…)
Und auch wenn man sich fragt, wie zum Geier es eigentlich die Natur selbst schafft, dass sich alles an die naturgesetze hält, wird’s in meinen Augen knifflig. Klar, die Naturgesetze stehen nicht irgendwo hingeschrieben und jedes Elektron löst mal schnell die Schrödingergleichung, um zu sehen, was es als nächstes tun darf. Aber da wir die Natur ziemlich gut mit Mathematik beschreiben könne, sollte ja irgendwas an der Natur mathematisch sein (siehe auch den oben verlinkten Artikel). Wenn aber physikalische Systeme mathematisch unentscheidbar sein können, dann wird es in meinen Augen noch schwieriger sich vorzustellen, wie das eigentlich gehen soll und wie die Natur denn nun wirklich funktioniert. (Achtung – das ist natürlich keine physikalische, sondern eine metaphysische Frage. Die Physik hat nur die Aufgabem die Natur korrekt zu beschreiben und korrekte Vorhersagen zu machen, die Frage, wie die Objekte physikalischer Theorien mit den “Dingen an sich” zusammenpassen, ist keine physikalische Fragestellung. Macht sie aber ja nicht uninteressant…)
Allerdings gibt es – soweit ich sehe – einen Ausweg. Die Probleme mit Gödel und Turing und auch hier in unserem Spingitter-System handeln wir uns alle ein, weil wir beliebige Turingmaschinen (oder beim Gödel-Theorem beliebig große Zahlen) zulassen. Unser Spingitter entfaltet seine Unberechenbarkeit erst im Grenzfall eines unendlich großen Systems, und auch bei der Konstruktion der Binärzahl aus der zugehörigen Zahl T der Turingmaschine haben wir eben gesehen, dass wir hier letztlich unendlich große Präzision brauchen.
Unendlichkeiten gibt es in der Physik natürlich überall – nicht nur bei Systemen, die unendlich groß sind, sondern auch anderswo. Wir beschreiben physikalische Größen mit reellen Zahlen, ungeachtet der Tatsache das bereits eine einzige reelle Zahl unendlich viel Informationen enthält. Meist macht man sich darüber nicht so viele Gedanken, aber so richtig intuitiv ist schon das nicht. Auch anderswo in der klassischen Physik wird man schnell mit Unendlichkeiten konfrontiert, selbst wenn man nur endlich viele Objekte in einem begrenzten Raumbereich betrachtet.
Und wenn man dann zu Quantensystemen übergeht, wird es natürlich noch viel schlimmer. Wir haben das ja oben schon am Beispiel des Spins gesehen – da wo in der klassischen Physik eine einzige Zahl (0 oder 1) genügt, brauchen wir in der Qm eine reelle Zahl, also letztlich unendlich viel Information.
Dass wir selbst mit Unendlichkeiten so unsere Schwierigkeiten haben, wusste schon Kant (1. Antinomie der reinen Vernunft). Wenn aber unsere mathematische Beschreibung der Natur korrekt ist, dann sollte auch die Natur selbst Schwierigkeiten bekommen- wie unser Spingitter zeigt, kann man mit Unendlichkeiten unentscheidbare Theorien aufstellen.
Letztlich stellt sich also die Frage, ob physikalische Größen wirklich unendlich sein können (nicht unbedingt unendlich groß, sondern auch unendlich präzise, wie eine reelle Zahl). Ist es vielleicht denkbar, dass wir alle unsere physikalischen Theorien letztlich auf das Wirken endlich vieler Objekte (die auch Raum und Zeit beinhalten müssten) zurückführen können, von denen jedes nur in endlich vielen Zuständen existieren kann? Die Zahl dieser Objekte und Zustände müsste natürlich gigantisch sein, damit wir trotzdem unsere kontinuierlich aussehende Welt herausbekommen können. Und es dürfte hier keine einzige reelle Zahl geben, denn die kann bereits beliebig viel Informationen speichern.
Tatsächlich hat es solche Ideen schon gegeben. Einen Überblick findet ihr auf den sehr guten Seiten in Stanford, auch RogerPenrose diskutiert die Idee kurz in seinem Buch “Road to Reality” und zitiert dabei Arbeiten von Ahmavaara. (Ich diskutiere das jetzt nicht im Detail – dieser Post ist eh schon zu lang. Vielleicht ein andermal.) Auch wenn eine solche “endliche Physik” also ungewohnt scheint – vollkommen ausgeschlossen ist es wohl nicht, dass unser Universum letztlich so funktioniert.
Ob uns das wirklich zufrieden stellen würde, weiß ich allerdings nicht. Nehmen wir an, am Ende kommt heraus, dass die gesamte Physik sich beschreiben lässt, wenn man N Objekte betrachtet, die jeweils in M Zuständen existieren können. Wahrscheinlich würden wir sofort fragen, warum nicht “N+1” oder “M+5”? Wäre das nicht mehr logisch konsistent? Könnte es Universen mit beliebig großen Werten von N und M geben? Aber dann laufen wir gleich wieder Gefahr, in die Turing-Falle zu tappen, denn dann könnte man vermutlich wieder Universen (oder Sequenzen von Universen) finden, die ein Halteproblem codieren.
So oder so – unser Turing-Quanten-Gitter macht deutlich, wie eng Mathematik und Physik verwoben sind; selbst die Probleme der Mathematik lassen sich in physikalischen Systemen wiederfinden.
Das extrem kurze Nature-paper ist
Cubitt, Toby S., David Perez-Garcia, and Michael M. Wolf. “Undecidability of the spectral gap.” Nature 528.7581 (2015): 207-211.
Die langfassung findet ihr bei ArXiV: Undecidability of the Spectral Gap (full version)
Eine kurze Erläuterung gibt es bei nature news, die geht allerdings nicht auf das Modell im Detail ein.
Ein paar Erläuterungen gibt es auch im Blog von Scott Aaronson.
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