Die Frage ist nicht, ob wir rassistische oder sexistische Gedanken haben – angesichts der Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind und leben, ist das letztlich vermutlich zwangsläufig so, unbewusste Stereotypen oder Vorurteile haben wir vermutlich alle (selbst könnt ihr das hier testen https://implicit.harvard.edu/implicit/). Insofern sind wir alle vermutlich in irgendeiner Weise sexistisch, rassistisch oder mit anderen Vorurteilen behaftet.
Die Frage, die wir uns eigentlich stellen müssen, lautet zum einen “Welche stereotypen Vorurteile gegen bestimmte Gruppen habe ich?” und zum anderen “Wie gehe ich damit um?” Vergleicht man den “Fall Tim Hunt” mit dem berühmten “Shirtgate“, dann wird klar, dass insbesondere die zweite Frage wichtig ist. Matt Taylor hat mit ihrem sexistischen Hemd und mit Bemerkungen über die Rosetta-Mission wie “She’s sexy, but I never said she was easy.” für Entrüstung gesorgt. Aber als ihr klar wurde, was passiert war und was sie ausgelöst hat, hat sie sich entschuldigt und die Sache war damit – zumindest für die meisten – erledigt.
Wenn mir (oder jemandem, der mir wichtig ist) vorgeworfen wird, “Sexistin” zu sein, dann sollte ich das nicht als Kategorie-Einteilung ansehen, sondern als Diagnose einer bestimmten Handlung. Das macht es mir leichter, konkret mit der aktuellen Situation umzugehen, statt Rechtfertigungen, möglicherweise noch aus anderen Lebensbereichen, zu suchen, die möglicherweise in Sätze der Art “Ich habe nichts gegen Frauen, einige meiner besten Freunde sind Frauen. Meine Ehefrau zum Beispiel” münden. (Na, wer kann dieses Zitat aus einer Folge einer Fernsehserie, in der es um Frauenförderung geht, richtig zuordnen?)
Auch umgekehrt gilt letztlich dasselbe: Wenn wir einen anderen Menschen, der einen sexistischen (oder rassistischen etc.) Satz sagt, als “Sexistin” (“Rassistin” etc.) einstufen, dann klassifizieren wir – das ist durchaus sinnvoll, beraubt uns aber auch jeder Abstufungsmöglichkeit. Genauso ist jemand, die aus Hunger ein Brot stiehlt, ebenso eine “Verbrecherin” wie eine 20fache Mörderin oder Terroristin – besonders sinnvoll ist diese begriffliche Gleichsetzung in den meisten Fällen aber nicht. Entsprechend kann die Einstufung von Menschen in Kategorien wie “Sexistinnen” (etc.) auch als eine Form des “othering” dienen – wir schreiben ein unerwünschtes Verhalten einer Gruppe von Menschen zu, zu der wir selbst (scheinbar) nicht gehören. Auch das konnte man bei Tim Hunt erleben – es gab in einigen Internetseiten durchaus Kommentare von Leuten, die sich gleich ausmalten, wie unglaublich schrecklich und sexistisch es im Labor von Hunt zugehen müsse – entsprechenden Aussagen von Mitarbeiterinnen zum Trotz. Wer “Sexistin” ist, macht eben nicht nur missglückte Witze, sondern unterdrückt Frauen auch im Labor usw. [Man kann dann auch das wiederum zum Vorwurf nehmen – das passierte in den Kommentaren zur Triggerwarnungsdiskussion, wo mir vorgehalten wurde, ich würde die Zustimmung oder Nichtzustimmung zum Thema quasi zum Kriterium für Menschenfreundlichkeit erheben. Das ist mir jetzt aber eine Meta-Ebene zu viel, um das noch zu thematisieren.]
Zusätzlich spielt in dieser Richtung (also bei der Kategorisierung anderer Menschen) noch etwas anderes mit hinein – der sogenannte “Attributionsfehler”: Wir neigen dazu, die Handlungen anderer Menschen vor allem als durch ihren Charakter und ihre Persönlichkeitseigenschaften bestimmt zu sehen, während wir bei unseren eigenen Handlungen akzeptieren und wissen, dass sie auch durch äußere Umstände beeinflusst werden. Wenn jemand anderes sexistisch handelt, schließen wir daraus “Sexist!” – wenn wir selbst es tun und uns dabei bemerken, beziehen wir die Umstände mit ein und gewichten unser Handeln anders.
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