Den zugrunde liegenden Fehlschluss, Menschen auf Grund einer Handlung in eine Kategorie zu stecken oder umgekehrt die Zuordnung in eine Kategorie als fundamentales Urteil wahrzunehmen, sehen wir immer wieder, auch in anderen Zusammenhängen – ich nenne ihn hier mal den “gut-böse-Fehlschluss” in Ermangelung eines besseren Namens. (Gibt es einen offiziellen Namen dafür? Es ist sicher eine Spielart des Falschen Dilemmas.) Entweder ist jemand “Sexistin”, “Rassistin”, “Antisemitin”… oder eben nicht. Dieser Fehlschluss führt wie oben erläutert dazu, dass man nicht mehr über die Sache im Detail diskutiert und dass man die jeweilige Person in eine Verteidigungsrolle drängt – es ist eben schwerer, zuzugeben “ich bin Sexistin” als zu sagen “diese Handlung von mir war sexistisch”. Jemand, der diesen Menschen kennt und schätzt, hört dann auch nahezu zwangsläufig heraus, dass wir diesen Menschen auf eine Stufe mit Leuten stellen, die Frauen hassen, diskriminieren usw., und verteidigen ihn entsprechend.
Gut-böse-Fehlschluss nenne ich das ganze hier deswegen, weil es letztlich immer darum geht: Ich (oder die Person, die ich verteidige) bin im Kern ein guter Mensch, Dinge, die ich tue, sollten deswegen gut sein – falls sie es doch nicht sind, dann sind äußere Gründe dafür verantwortlich. Der grundlegende Mechanismus dahinter ist die kognitive Dissonanz, also der Unterschied zwischen meinem Selbstbild und meinen Handlungen. Im Extremfall führt das dann zu dem, was Hannah Ahrendt die “Banalität des Bösen” genannt hat: Menschen, die – wie Eichmann – einerseits schreckliche Gräueltaten begehen, andererseits aber “normale Menschen” sind und die Verantwortung für ihre Taten externalisieren, also auf äußere Umstände (Befehle von Oben…) zurückführen. (Wobei Ahrendts Deutung von Eichmann durchaus umstritten ist – das Phänomen als solches ist es wohl nicht.) Und umgekehrt ist in dieser verführerisch einfachen Denkweise jemand, der etwas “böses” tut, eben charakterlich “böse”. (Interessant ist dabei, nebenbei bemerkt, dass Charaktere, die sich einer solchen Einteilung widersetzen, uns oft besonders faszinieren – ja, Han Solo hat zuerst geschossen, das machte für viele einen guten Teil seines Reizes aus. Aber den Gedanken verfolge ich heute mal nicht weiter, sonst wird der Text wirklich nie fertig…)
Werden wir mal etwas philosophisch: Auch wenn uns unser Selbstbild etwas anderes vorgaukelt – unser “Ich” ist keine monolithische und in sich widerspruchsfreie Einheit – diese Einheit ist nur ein Konstrukt, das es uns leichter macht, uns in unsere Umwelt einzuordnen und mit anderen Menschen umzugehen. Wir bestehen aus unterschiedlichen Aspekten (in Daniel Dennetts großartigem Buch “Consciousness Explained” (wer’s nicht kennt: Unbedingt lesen!) als “agencies” bezeichnet), die nicht alle perfekt miteinander harmonieren und die zusammengenommen unser “Ich” bilden. Zu glauben, ein Mensch sei einfach “gut” oder “böse” ersetzt diese Komplexität durch ein sehr simples Modell – wir alle tragen “gute” und “weniger gute” Züge in uns (wenn auch nicht alle in gleichem Maße) – und entscheidend ist letztlich nicht, was sozusagen die “Essenz” unseres Charakters ausmacht, sondern welche dieser Aspekte wir ausleben und nach Außen dringen lassen. (Deswegen ist ja auch z.B. im Buddhismus das “rechte Handeln” genauso wichtig wie das “rechte Denken”. (Ja, den Gedanken könnte man auch weiterspinnen…))
Der Fehlschluss macht es uns auch schwerer, unser eigenes Verhalten zu analysieren und zu ändern, insbesondere, weil der Attributionsfehler noch hinzukommt – ich weiß ja, dass ich nicht sexistisch (etc.) bin (“nobody is a villain in their own story”), also hatte mein Verhalten äußere Ursachen, die in den Umständen bedingt waren, und wer etwas anderes behauptet, muss also uneinsichtig sein. Letztlich führt das dann dazu, dass wir die Verantwortung für unsere Taten zurückweisen – ich wollte ja nur einen Witz machen, vielleicht bin ich einfach nicht so komisch, daran ist doch nichts Schlimmes…
Das passierte wohl auch zumindest einigen der Kommentatorinnen bei meinem Text über Triggerwarnungen: Dass ich sage “Hey Leute, Triggerwarnungen sind vielleicht ganz hilfreich und rücksichtsvoll” wird wahrgenommen als “Wer keine Triggerwarnungen verwendet, ist rücksichtslos” und dann wird daraus “Wer keine Triggerwarnungen verwendet, ist böse”. Und das ist dann eben die Aussage, die angegriffen wird. (Hinzu kam dann in diesem Fall speziell noch die argumentative Sippenhaft: Manche Leute, die Triggerwarnungen fordern, fordern auch X, Y und Z, also muss man gegen Triggerwarnungen sein, wenn man gegen X, Y und Z ist.)
Es ist gewissermaßen eine perfide Falle, in die wir hier hineinlaufen: Je stärker wir Sexismus (Rassismus etc.) anprangern und gesellschaftlich ächten, desto stärker assoziieren wir entsprechende Handlungen mit der Wertung “böse” – und um so größer wird die Tendenz dazu, eben nicht zu akzeptieren, dass eine bestimmte Handlung von uns tatsächlich sexistisch (rassistisch etc.) war, weil wir dann ja in genau diese Kategorie fallen.
Bevor jetzt jemand (vermutlich gewollt) diesen Text missversteht: Nein, das ist kein Aufruf dazu, Sexismus in Zukunft nicht mehr zu kritisieren – im Gegenteil. Wenn wir weniger über die jeweilige Person und mehr über die Handlung im einzelnen reden, dann können wir die Ursachen des jeweiligen Handelns vielleicht besser verstehen und wir machen es Menschen leichter, ihre Handlungen nicht irgendwie rechtfertigen müssen, sondern einfach zugeben zu können “Ja, das war sexistisch”. Und es ist auch verständlich, wenn Menschen sich über sexistische Handlungen aufregen und im Rahmen dessen eine Person als “Sexistin” bezeichnen. Es geht hier nicht darum, die Kritikerinnen von Hunt meinerseits irgendwie zu kritisieren – sondern nur darum, einen Mechanismus zu diskutieren, der in solchen Fällen eben oft dazu führt, dass solche Kritik nicht angenommen wird und dann letztlich eine Meta-Diskussion entsteht, so wie es ja auch bei Hunt der Fall war. (Wo es ja Kommentare gab wie die, dass ihre Tätigkeit als Nobelpreisträgerin solche sexistischen Äußerungen aufwiegen würde und man deswegen nachsichtig sein müsse etc.)
Helfen kann hier die Einsicht, dass es nicht um ein Urteil über einen Menschen als Ganzes geht, sondern über eine bestimmte Handlung in einer bestimmten Situation. Das können wir dann auch eher zum Anlass nehmen, etwas zu ändern – bei einzelnen Handlungen können wir ansetzen, unseren Charakter als ganzes ändern können (und wollen) wir nicht ohne weiteres.
Natürlich ist das Wort “Sexistin” nicht wertlos, und dieser Text ist kein Aufruf dazu, es nicht wieder zu verwenden. Wer sexistisch handelt oder redet, ist eben in dieser Situation “Sexistin”. Wirft mir das jemand in einer Situation zu Recht vor, dann sollte es eben nicht darum gehen zu zeigen, dass ich aber eigentlich keine Sexistin bin, sondern erst einmal darum, diesen konkreten Vorwurf zu verstehen: “Aha, hier habe ich das-und-das gesagt, also habe ich sexistisch gehandelt, also war ich in dieser Situation eine Sexistin.” Genauso wie jemand mich, wenn ich zu einer Verabredung zu spät komme, als “Spätkommerin” bezeichnen kann, ohne dass das bedeutet, dass ich immer und überall und ständig zu spät komme (meist bin ich nämlich seeeeehr pünktlich).
Wer sich so verhält, dass sexistische Ansichten in stärkerem Maße als in unserer Gesellschaft üblich ihr Denken und Handeln zentral beeinflussen, darf dann auch generell “Sexistin” genannt werden (die Kommentarspalten dieses Blogs liefern da einige Beispiele, bei denen ich das Wort bedenkenlos verwende), genauso wie es vollkommen angemessen ist, die zwanzigfache Mörderin eben “Verbrecherin” zu nennen oder ein Mitglied des Ku-Klux-Klan “Rassistin”. In den meisten Fällen ist es aber vermutlich besser, das entsprechende Etikett so zu verstehen, dass es sich auf eine Handlung bezieht, nicht auf die Person als ganzes. Das erspart uns eskalierende Grundsatzdiskussionen und macht es uns einfacher, unser eigenes Denken und Handeln zu hinterfragen und zu korrigieren.
PS: Falls jemand in den Kommentaren erklären will, dass es Sexismus (oder Rassismus) in unserer Gesellschaft ja gar nicht mehr gibt und dass es eh die Frauen sind, die bevorzugt werden etc. – lasst es einfach und kommentiert doch lieber bei einem Blog auf Eurem Planeten.
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