Die Allgemeine Relativitätstheorie ist ja bekanntlich schwer zu verstehen – ein Grund, warum es hier soviele Artikel dazu gibt. Aber eine – wenn nicht sogar die – Grundidee dahinter ist eigentlich ziemlich simpel, denn letztlich hat Einstein nichts gemacht, als die beiden Newtonschen Gesetze zu vertauschen.
Betrachten wir ein klassisches Beispiel (auch in diesem Video zu finden): Ein Apfel hängt an einem Baum, löst sich irgendwann und fällt dann herunter – der Legende nach genau auf Newtons Kopf oder Nase.
Newton würde das so beschreiben: Solange der Apfel am Baum hängt, wirkt insgesamt keine Kraft auf den Apfel, denn ein Objekt, auf das keine Kraft wirkt, bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit (in diesem Fall mit Geschwindigkeit Null, weil der Apfel ja seinen Ort nicht ändert). Das ist das berühmte erste Newtonsche Gesetz:
Wenn keine Kraft wirkt (oder sich alle Kräfte aufheben), bewegt sich ein Objekt gleichförmig mit konstanter Geschwindigkeit auf einer geraden Linie.
Wenn man genau hinguckt, dann sieht man, dass eigentlich zwei Kräfte auf den Apfel wirken – die Schwerkraft zieht den Apfel nach unten, aber der Ast zieht ihn mit gleicher Kraft nach oben, was man auch daran sehen kann, dass der Stängel selbst eine Kraft erfährt – mit einem hinreichend genauen Messaufbau könnten wir sehen, dass er ein wenig elastisch gedehnt wird. Die beiden Kräfte sind gleich groß, aber genau entgegengesetzt zueinander, deshalb heben sie sich auf.
Und wenn der Stängel dann irgendwann zu schwach geworden ist, um den Apfel zu halten, dann löst sich der Apfel. Jetzt überträgt der Stängel keine Kraft mehr, es wirkt nur noch die Schwerkraft, und die beschleunigt den Apfel nach unten, so dass er zu Boden fällt. Hier schlägt also das zweite Newtonsche Gesetz zu:
Kraft ist Masse mal Beschleunigung. (folgt dem Link für eine ausführliche Erklärung des ersten und zweiten Newton-Gesetzes)
Graphisch kann man das, was passiert, in einem kleinen Diagramm veranschaulichen, in dem man auf der horizontalen Achse die Zeit und auf der senkrechten Achse den Ort aufträgt. So sieht das Diagramm dann aus (Idee dazu aus dem oben verlinkten Video):
Am Anfang ist der Apfel in Ruhe, im Diagramm ist sein Weg also eine gerade und horizontale Linie, der Ort ändert sich ja nicht. Wenn der Apfel fällt, ändert er seinen Ort mit der Zeit und wird dabei immer schneller, also wird die Linie gekrümmt. (Eine schräg verlaufende gerade Linie würde bedeuten, dass der Apfel sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, dann wäre er auch kräftefrei.)
Soweit Newton. Aber Einstein hatte einen Einwand dagegen: Normalerweise merken wir es, wenn Kräfte auf uns wirken – wenn wir im Auto sitzen und das Auto beschleunigt, dann werden wir in die Sitze gedrückt, wenn ein Fahrstuhl uns nach oben beschleunigt, dann werden wir nach unten gedrückt. Wenn wir dagegen im freien Fall sind, dann merken wir davon nichts – ein frei fallendes Objekt ist schwerelos, so wie die Astronautinnen in einer Raumstation. (Die sind auch nicht schwerelos, weil die Station so weit von der Erde weg ist…) Einstein überlegte eine Weile herum, ob es irgendeine Möglichkeit gibt, zu merken, dass man gerade im freien Fall ist, und stellte schließlich fest, dass es diese Möglichkeit lokal nicht gibt. “Lokal” bedeutet, dass ihr nur Experimente machen dürft, die eine kurze Zeit dauern und auf einen kleinen Raumbereich beschränkt sind. (Natürlich gilt es nicht, einfach zu gucken, ob sich der Boden nähert, und wenn man weiter entfernte Objekte hat, die auch fallen, dann merkt man, dass die sich anders bewegen – zwei frei fallende Steine zum Beispiel bewegen sich ja ein wenig aufeinander zu, weil sie beide zum Erdmittelpunkt fliegen).
Einstein hatte ja die Angewohnheit, einfache Ideen zum Prinzip zu erklären und zu sehen, wo man damit landet (“Hey, was wäre, wenn die Lichtgeschwindigkeit für alle Beobachter immer gleich wäre…”). Wo landet man also, wenn man diese Erkenntnis zu Ende denkt?
Da wir es normalerweise eben nicht merken, wenn Kräfte auf uns wirken und da wir eine Bewegung im freien Fall (lokal) in keiner Weise von einer Situation unterscheiden können, in der wir irgendwo fernab jeder Schwerkraft oder sonstiger Einflüsse im Weltall schweben, sagte Einstein: O.k., wenn wir im freien Fall sind, dann wirken also keine Kräfte auf uns. Den Apfel, der gerade vom Baum fällt, beschreiben wir also korrekterweise nicht mit dem zweiten Newtonschen Gesetz (Kraft ist Masse mal Beschleunigung), sondern mit dem ersten Gesetz, denn er ist kräftefrei.
“Äh, ‘tschuldigung, Albert, aber ist dir schon mal aufgefallen, dass ein frei fallendes Objekt seine Geschwindigkeit ändert? Sowas nennt man doch wohl eine Beschleunigung, oder nicht?” Ja, dieser Einwand liegt nahe und ist berechtigt.
Aber wir können trotzdem an Einsteins Idee festhalten – dazu müssen wir “nur” neu definieren, was es bedeutet, sich gleichförmig zu bewegen. Unter anderem deshalb hat Einstein das Konzept der gekrümmten Raumzeit eingeführt (und wenn ihr rechts bei der Tag-Wolke klickt oder die Suchmaske bemüht, findet ihr einen Haufen Artikel zum Thema) – in der gekrümmten Raumzeit ist der “geradeste und gleichförmigste” Weg der, bei dem der Apfel zur Erde fällt. (Vornehm sagt man “Der Apfel folgt einer Geodäte”.)
Der frei fallende Apfel folgt der geradesten Bahn in der gekrümmten Raumzeit, die es für ihn gibt – und genau deswegen merkt der Apfel auch nichts von irgendwelcher “Schwerkraft”. (Relativ ausführlich habe ich gerade in einer kleinen Artikelserie erklärt, wieso aus der Einsteinschen Theorie dasselbe rauskommt wie bei Newton.) Für ihn gilt also jetzt das erste Newtonsche Gesetz.
Wenn der Apfel dagegen still und ortsfest am Baum hängt, dann folgt er eben nicht der geradesten und gleichförmigsten Bahn, die es für ihn gibt – dann müsste er nämlich runterfallen. Der Stängel und der Ast üben eine Kraft auf ihn aus, und jetzt wird er beschleunigt, nämlich von der Bahn weg, die er sonst eigentlich nehmen würde. Für uns sieht es so aus, als ob der Apfel ortsfest und ohne jede Beschleunigung am Ast hängt – aber das liegt nur daran, dass wir auch die ganze Zeit beschleunigt werden, weil der Boden unter unseren Füßen uns daran hindert, unserer geradest-möglichen Bahn zu folgen. Der ruhig hängende Apfel ist also der, der beschleunigt wird, für ihn gilt das zweite Newtonsche Gesetz, obwohl er ortsfest ist.
Auch die Beschreibung nach Einstein kann man in einem Diagramm einzeichnen – das sieht etwas ungewohnt aus, weil die Diagrammachsen gekrümmt sein müssen, um die gekrümmte Raumzeit zu symbolisieren:
Hier ist die grüne Linie, die den Weg des Apfels darstellt, am Anfang gekrümmt, um der gekrümmten Raumzeit zu folgen, sobald der Apfel fällt, ist die Linie gerade. Der Weg des Apfels ist aber bei Einstein und Newton (fast) genau derselbe – messbare Unterschiede gibt es zwischen beiden Theorien nur, wenn das Schwerefeld bzw. die Raumzeitkrümmung groß ist (wie in der Nähe der Sonne) oder wenn wir die zeitliche Änderung von Gravitationsfeldern betrachten (wie bei Gravitationswellen).
Ausgehend von dieser Grundidee hat Einstein schließlich die Allgemeine Relativitätstheorie entwickelt – die enthält natürlich noch ein klein wenig mehr als nur diese veränderte Betrachtungsweise. Aber die Grundidee ist die, die ich hier skizziert habe und die Einstein als den “glücklichsten Gedanken meines Lebens” bezeichnete: Ein frei fallender Apfel bewegt sich nach dem ersten Newtonschen Gesetz, ein ruhig am Baum hängender Apfel nach dem zweiten, und nicht andersherum.
PS: Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das Vertauschen der Newtongesetze gilt natürlich nur für die Schwerkraft: Wenn ihr in eurem Auto beschleunigt, dann gilt auch nach Einstein das zweite Newton-Gesetz mit F=ma – diese Beschleunigung hat nichts mit der Krümmung der Raumzeit zu tun.
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