Vielleicht habt ihr ja auch gerade den Artikel im sogenanten “Wissenschaftsfeuilleton” (Motto anscheinend: viel Meinung, wenig Wissenschaft) gelesen und euch neben der ganzen Schwadroniererei darüber, dass Herr Fischer gen möchte, dass die Lieblings”geheimnisse” unangetastet bleiben und dass er die Lust verliert, über Dinge wie Neutrinos zu sehr nachzudenken – also, vielleicht habt ihr euch auch gefragt, was eigentlich hinter diesem Artikel steckt. Ehe ich mich weiter über den Artikel aufrege (der mich doch ziemlich an das hier erinnert), erzähle ich euch lieber kurz, was es mit den neuen Erkenntnissen zu den Neutrinos auf sich hat – das ist nämlich tatsächlich ziemlich interessant. (Weitere Details findet ihr auch hier.)
Es geht tatsächlich um ein (oder eigentlich zwei) Probleme des sogenannten Standardmodells der Elementarteilchenphysik (die allerdings, anders als in dem besagten Artikel behauptet, nicht übertüncht werden, sondern allgemein bekannt sind und oft diskutiert werden) – nämlich zum einen die Massen der Neutrinos und zum anderen die Existenz von Materie überhaupt.
Fangen wir mit einem Turbo-Überblick über das Standardmodell an: Danach gibt es unterschiedliche Arten von Elementarteilchen: Zum einen gibt es die Quarks, die sich zusammenschließen, um Teilchen wie Protonen, Neutronen und so weiter aufzubauen (aus denen dann wiederum Atomkerne bestehen). Mehr über Quarks und wie sie zusammenhalten findet ihr in diesem Artikel. Und dann gibt es die Leptonen – dazu zählt zunächst mal das bekannte Elektron, das sich in der Atomhülle tummelt und für chemische Bindungen, elektrische Leitungen und alles mögliche andere zuständig ist. Das Elektron hat zwei schwerere Geschwister, das Myon und das Tauon – die verhalten sich eigentlich identisch zum Elektron, aber sie sind deutlich schwerer und zerfallen innerhalb weniger Mikrosekunden. Dabei entseht aus einem Muon ein Elektron. Zusätzlich entstehen noch andere Teilchen, die Neutrinos.
Lange Zeit dachte man, dass Neutrinos keine Masse haben und dass es einfach drei Sorten von ihnen gibt, nämlich je eins für das Elektron, Myon und Tauon. Inzwischen wissen wir, dass es etwas komplizierter ist, aber das liegt schon jenseits des Standardmodells.
Zusätzlich gibt es zu all diesen Teilchen Antiteilchen – die sind entgegengesetzt elektrisch geladen (jedenfalls im Fall der Quarks und Elektronen/Myonen/Tauonen; Neutrinos sind elektrisch neutral). Wenn sich ein Teilchen und ein Antiteilchen treffen, dann vernichten sie sich gegenseitig – die dabei freigesetzte Energie lässt neue Teilchen entstehen (genau so was macht man in Teilchenbeschleunigern, um neue Elementarteilchen zu erzeugen).
Zwischen diesen ganzen Elementarteilchen gibt es verschiedenen Wechselwirkungen – die altbekannte elektromagnetische Wechselwirkung (wenn die Teilchen geladen sind, Neutrinos merken von der also nichts), die sogenannte schwache kernkraft (die zum Beispiel dafür verantwortlich ist, dass ein Myon zerfällt), die starke Kernkraft, die nur die Quarks merken (ausführlich im oben verlinkten Artikel erklärt), und dann noch die Gravitation, (die man besser ignoriert, weil niemand weiß, wie Gravitation auf der Elementarteilchenebene genau funktioniert…).
Soweit das Standardmodell. Schon bei seiner Entwicklung wusste man, dass es ein Problem hat: nach dem Standardmodell ist die Welt praktisch vollkommen symmetrisch für Teilchen und Antiteilchen – es sollten bei so ziemlich allen Prozessen immer gleich viele Teilchen wie Antiteilchen entstehen. (Es gibt einige Ausnahmen, zum Beispiel den Zerfall des K- oder B-Mesons. Deshalb guckt man am CERN auch nach genau diesen Zerfällen – das ist nämlich nicht nur für das Higgs-Teilchen da, sondern tut auch noch andere Dinge.)
Und dann entdeckte man eine zweite Verletzung des Standardmodells (dafür gab’s übrigens letztes Jahr den Nobelpreis): Neutrinos haben eine (wenn auch sehr kleine) Masse und, was noch verblüffender ist, sie können sich ineinander umwandeln – wenn ein Myon-Neutrino irgendwo losfliegt, dann hat es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, als Elektron- oder Tau-Neutrino anzukommen. (Das liegt daran, dass der Zustand eine echte quantenmechanische Überlagerung ist, eine kurze Erklärung dazu findet ihr hier, habe sie nur angelesen, bin mir nicht sicher, wie gut sie ist.)
Auch diese Umwandlung zwischen den Neutrinos (und deren Masse) sollte es nach dem Standardmodell nicht geben.
Das neue Experiment (danke an Bjoern für den Link) untersucht jetzt genau die Umwandlung von solchen Myon-Neutrinos. Dazu erzeugt man in einem teilchenbeschleuniger Myon-Neutrinos (heute geht’s um theoretische Physik, deswegen erkläre ich nicht, wie das genau geht) und schickt sie 300 Kilometer weit durch den japanischen Untergrund. (Das geht, weil Neutrinos nur sehr sehr selten mit Materie wechselwirken. Deswegen muss man auch Unmengen von ihnen produzieren, um ein paar Messergebnisse zusammenzukratzen.) Dort landen sie dann im Super-Kamiokande-Detektor. Einige weniger der Neutrinos wechselwirken mit dem Wasser in diesem Detektor und erzeugen ein messbares Signal (wie gesagt, die Details spare ich mir heute), das man dann auswerten kann, um zu sehen, was für ein Neutrino man eingefangen hat.
Dieses Experiment hat man nun zweimal gemacht – einmal mit losgeschickten Myon-Neutrinos, einmal mit Anti-Myon-Neutrinos. Nach aller Erwartung sollte beide Male in etwa dasselbe passieren – Myon-Neutrinos verwandeln sich mit einer bestimmten Rate in Elektron-Neutrinos, die Anti-Myon-Neutrinos in Anti-Elektron-Neutrinos. Die Rate sollte eigentlich in beiden fällen auch dieselbe sein.
So ist es aber nicht gekommen – startet man mit Myon-Neutrinos, dann kommen deutlich mehr Elektron-Neutrinos an, als wenn man mit Antineutrinos startet. Myon-Neutrino und Myon- Anti-Neutrino unterscheiden sich also in ihrer Umwandlung. Damit haben wir bei den Neutrinos also beide Probleme des Standardmodells sozusagen in einem Teilchen vereint: sie verletzen die Materie-Antimaterie-Symmetrie und sie haben – entgegen der Vorhersage des Standardmodells – eine Masse. Fairerweise muss man dazusagen, dass die Ergebnisse statistisch noch nicht vollkommen abgesichert sind und dass es eine gewisse (nicht allzu geringe) Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass sie bei weiteren Messungen verschwinden, denn die absiolute Zahl der Ereignisse ist klein: Wenn ich diese Präsentation hier richtig verstehe, dann wurden 32 Elektron-Neutrinos und 4 Elektron-Anti-Neutrinos gemessen, ohne eine Materie-Antimaterie-Symmetrie hätte man 23 und 7 erwartet (die Diskrepanz da kommt von der unterschiedlichen rate, mit der Neutrinos und Antineutrinos erzeugt werden). Eine genauere Prüfung (mehr Daten…) ist also notwendig.
Wenn wir also über das Standardmodell hinaus wollen, hin zu einer Theorie, die etwas weniger Lücken hat, dann sind Neutrinos vermutlich der Weg dorthin. Damit ist nicht notwendig gesagt (wie in dem Artikel drüben), dass die Neutrinos selbst verantwortlich für die Asymmetrie sind – aber sie sind die Elementarteilchen, die in ihren Eigenschaften am stärksten vom Standardmodell abweichen. Genau deswegen ist die aktuelle Neutrinoforschung so spannend, denn sie öffnet möglicherweise eine Tür zur Physik hinter dem Standardmodell.
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