Dass die Entropie nie abnehmen kann, ist ja eines der wichtigsten Gesetze der Physik, bekannt unter dem Namen “zweiter Hauptsatz der Thermodynamik”. (Keine Sorge, falls ihr gerade nicht parat habt, was nochmal die Entropie ist, das klären wir gleich im Detail.) Dieser Satz ist so fundamental, dass Arthur Eddington (in einem meiner Lieblingszitate) darüber gesagt hat:
If someone points out to you that your pet theory of the universe is in disagreement with Maxwell’s equations — then so much the worse for
Maxwell’s equations. If it is found to be contradicted by observation — well these experimentalists do bungle things
sometimes. But if your theory is found to be against the second law of thermodynamics I can give you no hope; there is nothing for it but to
collapse in deepest humiliation.[Falls Ihnen jemand zeigt, dass Ihre Lieblingstheorie des Universums nicht mit den Maxwell-Gleichungen übereinstimmt — Pech für die
Maxwell-Gleichungen. Falls die Beobachtungen ihr widersprechen — nun ja, diese Experimentatoren bauen manchmal Mist. Aber wenn Ihre Theorienicht mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik übereinstimmt, dann kann ich Ihnen keine Hoffnung machen; ihr bleibt nichts übrig als in tiefster Schande zu kollabieren.]
Kurz gesagt, der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ist ziemlich fundamental. Um so erstaunlicher, dass er eigentlich nicht wirklich gilt, oder jedenfalls nicht immer, wenn man genau hinguckt – und das tun wir heute. Um es kurz zu machen. Ja, die Entropie darf auch abnehmen. Es ist allerdings sehr, sehr unwahrscheinlich.
Ein Spielzeugmodell
Wie so oft in der Physik versteht man die Dinge am besten an einem einfachen Beispiel, einem Spielzeugmodell. Wir stellen uns einen Kasten vor, der mit irgendwelchen Gasmolekülen oder -atomen gefüllt ist (denkt im Zweifel einfach an das Zimmer, in dem ihr gerade sitzt, aber denkt euch die Schwerkraft weg, die macht die Sache nur unnötig kompliziert). Die Temperatur ist in der Physik ein Maß für die Geschwindigkeit der Gasatome, solange die Temperatur nicht gleich Null ist, bewegen sich die Gasatome also in dem Kasten herum.
Stellt euch vor, dass die Gasatome am Anfang alle in einer Ecke sind (vielleicht ist dort eine Gasflasche, deren Hahn ihr aufdreht), während der Rest des Kastens leer ist – also ein Vakuum. Die Gasatome in der Flasche sausen wild durch die Gegend, fliegen mal hierhin, mal dorthin, und früher oder später fliegt eins aus der Flasche heraus und in den großen Kasten hinein. Die Wahrscheinlichkeit, dass es durch den Hals der Flasche wieder in die Flasche zurückfliegt, ist natürlich klein. Nach einer Weile verteilt sich das Gas also gleichmäßig im Kasten, es sind überall in etwa gleich viele Atome. (Auch in der Flasche, wenn sich die Gasatome gleichmäßig verteilt haben, dann fliegt im Mittel für jedes Atom, das durch den Flaschenhals nach Draußen fliegt, auch eins in die Flasche hinein.)
Wir haben jetzt also einen Kasten, in dem die Dichte der Teilchen (und auch der Druck der Teilchen usw) überall gleich groß ist, unser System ist im sogenannten “thermodynamischen Gleichgewicht”. Ihr seht auch, dass daran nichts besonderes oder geheimnisvolles ist; es ist einfach eine Frage von Zufall und Statistik.
Mikro und Makro
Um etwas präziser zu werden, müssen wir zwei unterschiedliche Arten unterscheiden, das System zu beschreiben: Die Mikro- und die Makro-Sicht. In der Mikro-Sichtweise nehmen wir an, dass wir alles über das System wissen, quasi die Facebook-Ansicht des Gases. Von jedem Atom wissen wir genau, wo es ist, welche Geschwindigkeit es hat, usw. Wir wissen also, wo Gasatom Nummer 1 gerade ist, oder Nummer 12345678 usw.
Die andere Sichtweise ist die Makro-Sichtweise, bei der wir nicht so genau hinschauen. Da fragen wir uns nicht, was jedes einzelne Gasatom macht, sondern nur, was die im Mittel alle so tun. Das ist gewissermaßen die Politik-Sicht der Dinge – den Parteien ist egal, ob sie von Lieschen Müller oder Otto Meier gewählt werden, wichtig sind am Ende nur die Prozente, die sie abbekommen. In unserem Gas interessieren wir uns da nur für Größen, die wir makroskopisch messen können, beispielsweise die Dichte oder den Druck im Gas. Das ist auch die Sicht, die wir im Alltag haben – wnen ich Luft hole, ist nur wichtig, dass da ein Gasatom (bzw. Sauerstoffmolekül) zum Einatmen ist, aber ob ich jetzt Nummer 1 oder Nummer 12345678 einatme, ist mir ziemlich egal.
Teilen wir den kasten mal gedanklich in zwei Hälften. Wir können uns jetzt fragen: kann es nicht per Zufall passieren, dass eine der beiden Hälften komplett leer ist, weil sich alle Gasatome in der anderen Hälfte versammeln? Immerhin purzeln die alle zufällig in der Gegend herum (wer genau sein will, kann von “deterministischem Chaos” sprechen). Wenn nur ein Gasatom da wäre, dann wäre es auf jeden Fall immer so, dass eine Hälfte des Kastens leer ist; bei zwei Gasatomen haben wir eine 50%-Chance, dass eine der beiden Hälften leer ist (die Atome können links oder rechts sein, also haben wir LL, LR, RL, RR als Möglichkeiten). Aber je mehr Gasatome es werden, desto unwahrscheinlicher wird es.
Fragen wir mal konkret, wie wahrscheinlich es ist, dass die linke Seite des Behälters leer ist. Bei einem Gasatom ist der Wert 50%, bei zwei nur noch 25%, bei drei nur noch 12,5% usw. Allgemein ist die Formel bei N Gasatomen 1/2N, bei 100 Gastomen schon 1: 1030, also 0,000000000000000000000000000001 (wenn ich mich mit den Nullen nicht verzählt habe), und bei realistischen Zahlen von Gasatomen (in der Größenordnung von 1023 ) ist die Wahrscheinlichkeit dann entsprechend unglaublich winzig.
Wichtig ist, immer im Kopf zu haben, dass das nicht daran liegt, dass es für ein einzelnes Atom irgendwie unwahrscheinlich wäre, auf der einen oder anderen Seite zu sein, es ist lediglich eine Frage der Statistik. (So wie es für eine beliebige Person vielleicht eine 30%-Wahrscheinlichkeit gibt, die Partei XY zu wählen; dass aber alle Leute XY wählen, ist entsprechend unglaublich unwahrscheinlich.)
Entropie
Die Entropie ist jetzt genau die Größe, die diesen statistischen Effekt erfassen soll. Sie sagt, wie viele Möglichkeiten es gibt, einen bestimmten, makroskopischen Zustand durch Mikro-Zustände zusammenzusetzen. (Mathematisch nimmt man da noch nen Logarithmus, damit die Zahlen nicht so riesig werden, aber das spielt erst mal keine Rolle.) In unserem Beispiel gibt es unglaublich viele Möglichkeiten, die Gasatome so zu verteilen, dass links und rechts genau gleich viele sind, aber deutlich weniger, bei denen links doppelt so viele sind wie rechts, und nur sehr wenige, bei denen alle Gasatome links sind. Das ist schlicht eine Frage der Statistik, aber weil wir es mit sehr vielen Gasatomen zu tun haben, ist die Wahrscheinlichkeit, eine signifikante Abweichung von der statistischen Vorhersage zu bekommen, extrem winzig.
Dass die Entropie immer zunimmt, ist also schlicht eine Frage der Statistik: Die Zahl der Möglichkeiten dafür, die Gasatome gleichmäßig zu verteilen, ist so unglaublich viel größer als die Zahl der Möglichkeiten dafür, dass die Gasatome alle auf einer Seite des Kastens sind, dass die Statistik schlicht dafür sorgt, dass ihr den einen Zustand (nahezu) immer und den anderen (nahezu) nie bekommt.
So weit, so gut. Aber wer genau aufgepasst hat, hat gemerkt, dass meine Definition der Entropie (oder des Makrozustands, auf den sie sich ja bezieht) ein bisschen schwammig ist: Was ist, wenn ich den Kasten nicht gedanklich in zwei Teile teile, sondern in vier? Ändert die Zahlen etwas, aber es ist immer noch verdammt unwahrscheinlich, dass einer der vier Teile komplett leer ist. Aber wenn ich 8 nehme? 16? Eine Million? Eine Milliarde? Spätestens, wenn ich den Kasten in mehr Teile teile, als ich Atome im Kasten habe, wird natürlich auch einer der Teile leer sein.
Man kann natürlich argumentieren, dass das dann wirklich keine Makro-Zustände mehr sind. Richtig. Aber wo genau ist die Grenze zwischen Makro und Mikro? Wie viele Teile für den Kasten gelten noch als Makrozustand, ab wann ist er ein Mikrozustand?
Wenn ihr so überlegt, merkt ihr, dass die Definition der Entropie ein wenig ungenau ist. Für praktische Zwecke ist das relativ egal – solange ihr die Teile nicht zuuu winzig macht, spielt es keine Rolle, wie genau ihr den Kasten aufteilt. Im Nano-Bereich wird das aber schon wichtig – Leute, die sich zum Beispiel mit Gassttrömungen durch Membranen mit Porengrößen so im Bereich von ein paar Hundert Nanometern beschäftigen, merken, dass da die handelsüblichen Regeln der Strömungsmechanik und Thermodynamik so nicht mehr gelten, weil es eben nicht mehr überall so viele Atome gibt, dass die Mittelung immer gut funktioniert.
Kleine Komplikation: Ergodizität
Die Zunahme der Entropie beruht also schlicht darauf, dass es statistisch wahrscheinlich ist, einen Makrozustand zu bekommen, zu dem es viele Mikrozustände gibt. Der Zustand mit den meisten Mikrozuständen ist der mit der höchsten Entropie und damit auch der, zu dem sich das System entwickelt. Die Logik funktioniert aber nur dann, wenn das System diesen Zustand auch tatsächlich erreichen kann. Stellt euch beispielsweise vor, dass wir den Flaschenhals der Gasflasche unglaublich eng und lang machen, so dass ein Atom, das sich durchquetscht, genau geradeaus weiterfliegen muss. Alle Atome fliegen dann in unserem Kasten exakt in dieselbe Richtung, sagen wir, von links nach rechts. Rechts stoßen sie dann gegen die Wand, kehren um, und fliegen wieder nach links. Die Atome haben also keine Chance, jemals beispielsweise in die obere Hälfte des Kastens zu kommen, weil sie nie eine Geschwindigkeit in diese Richtung bekommen können. (In der Realität werden natürlich Stöße zwischen den Atomen auchmal welche zur Seite ablenken, das ist mir hier aber egal, es geht nur ums Prinzip.)
Ein System kann den Zustand maximaler Entropie also nur dann erreichen, wenn das nicht durch andere Umstände (beispielsweise die Anfangsbedingung) verhindert wird. Wenn wir also alle möglichen Mikrozustände eines Systems angucken, dann müssen all die auch prinzipiell vom System eingenommen werden können, sonst funktioniert die ganze Logik nicht. Man sagt, dass ein System “ergodisch” ist, wenn unsere Logik funktioniert, wenn es also prinzipiell im Laufe der Zeit alle denkbaren Mikrozustände einnehmen kann.
Nun könnt ihr argumentieren, dass das ja eine sehr spezielle Situation war, weil ich die Flasche speziell konstruieren musste, um den Effekt zu erklären. Aber ganz so einfach ist es nicht. Wenn unser Kasten von der Außenwelt isoliert ist, dann ist darin beispielsweise auch die Energie erhalten. Zustände, in denen beispielsweise alle Atome eine hohe Geschwindigkeit haben, sind deshalb prinzipiell nicht möglich, weil sich dazu die Gesamtenergie ändern müsste. Damit die Thermodynamik trotzdem vernünftig funktioniert, akzeptiert man diese Einschränkung der Möglichkeiten durch die Energieerhaltung und betrachtet in einem abgeschlossenen System generell nur solche Mikrozustände, deren Energie “passt”. (Alternativ kann man auch erlauben, dass die Atome durch die Wände Energie mit der Umwelt austauschen, wer Physik studiert, lernt das als Unterschied zwischen dem mikrokanonischen und dem kanonischen Ensemble, aber wer nur diesen blog liest, kann das gern wieder vergessen.)
Neben der Energie gibt es ja noch weitere Erhaltungssätze, beispielsweise die Impulserhaltung. Müssen wir uns über die auch Gedanken machen? Normalerweise nein, weil wir es meist mit Systemen zu tun haben, die feste Wände haben und in denen die Impulserhaltung deshalb nicht gilt – die Teilchen können ja von der Wand abprallen und dabei ihren Impuls ändern.
Für das Folgende könnt ihr diese ganze Komplikation mit der Ergodizität auch gern wieder vergessen – ich habe es nur hingeschrieben um zu zeigen, dass diese statistischen Überlegungen im Einzelnen ziemlich trickreich werden können.
Statistik und die Wiederkehr
Dass die Entropie zunimmt, ist also ein Effekt der Statistik: Fängt man in einem Makrozustand an, für den es nur wenige Mikrozustände gibt, dann entwickelt sich das System in Richtung auf einen Makrozustand, für den es mehr Mikrozustände gibt. So wie sich unsere Gasatome im Laufe der Zeit immer weiter im Kasten verteilen.
Aber Statistik ist immer eine Frage der Wahrscheinlichkeit: Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber theoretisch spricht nichts dagegen, dass zufällig alle unsere gasatome wieder in der Flasche landen. Es spricht nicht nur nichts dagegen, es wird auch früher oder später (aber eher seeeehr viel später) passieren. Das ist die Aussage des sogenannten Poincareschen Wiederkehrsatzes: Ein hinreichend braves physikalisches System, das sich frei entwickeln kann, wird irgendwann wieder seinem Ausgangszustand beliebig nahe kommen.
Für alle praktischen Zwecke ist dieses “irgendwann” aber beliebig lange. Selbst bei 100 Gasatomen wahr die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle links versammeln, ja schon ziemlich klein. Nehmen wir an, unser Behälter wäre einen Meter groß und die Gasatome sausen mit einigen Hundert Metern pro Sekunde durch den Behälter, dann dauert es vielleicht eine Hundertstel Sekunde, bis sich eine komplett neue Anordnung der Gasatome einstellt. In der Sekunde hat das System also 100 Mikrozustände, in einem Jahr damit etwa 3 Milliarden Mikrozustände, also müssen wir etwa (bei einer Wahrscheinlichkeit von 1: 1030) 300000000000000000000 Jahre warten. Und das bei 100 Gasatomen, bei 1000 oder einer Million oder gar 1023 wird die Wartezeit schon ziemlich lang…
Wenn man das System aber hinreichend klein macht, dann kann man tatsächlich Abweichungen vom zweiten Hauptsatz beobachten und sehen, dass die Entropie auch mal abnehmen kann, so wie in diesem Experiment hier.
Angesichts der Zahlen braucht ihr aber keine Angst zu haben, dass durch eine statistische Schwankung plötzlich vor eurer Nase kein Luft zum Einatmen mehr ist. Für alle praktischen Zwecke ist der 2. Hauptsatz ziemlich unangreifbar. Wenn man bedenkt, dass er letztlich nur auf der statistischen (und unscharfen) Beschreibung eines Systems beruht, ist das vielleicht eine der überraschendsten Erkenntnisse der Physik.
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