Momentan geht es durch diverse Medien: Experimente in Ungarn haben Hinweise auf neues Elementarteilchen und eine fünfte Kraft entdeckt! Hier ein paar schnelle Gedanken dazu, was hinter diesen Schlagzeilen steckt und wie die Entdeckung (möglicherweise) funktioniert. Das wichtigste Vorneweg: es handelt sich um zwei Experimente einer einzigen Gruppe (die laut Medienberichten in der Vergangenheit bereits mehrfach fehlerhafte Ergebnisse produziert haben soll), die bisher nicht durch unabhängige Gruppen bestätigt wurden. Deshalb bin ich erst mal skeptisch und prophezeie, dass sich das ganze eines Tages als Fehler herausstellen wird (so wie damals das berühmte 17keV-Neutrino).
Aber egal – ich bin auf diesem Gebiet keine wirkliche Expertin, gerade was Kernzerfälle angeht – und behaupte deshalb nicht, dass meine Meinung irgendwie wichtig wäre. Schauen wir lieber mal, was da eigentlich gemacht und gemessen wurde. (Eine gute Einführung in das Thema gibt es im Blog Particlebites (kannte ich bisher nicht).)
Kernzerfälle
Wenn man Teilchen wie Protonen auf Atomkerne schießt, dann können diese eingefangen werden, so dass ein anderer Atomkern entsteht. Nehmen wir beispielsweise Lithium 7 – das hat, wie der Name sagt, 7 Kernbausteine, drei Protonen und 4 Neutronen. Schießt man ein Proton drauf, dann entsteht Beryllium 8 – 8 Kernbausteine, weil es jetzt 4 Protonen sind und ein Atomkern mit 4 Protonen gehört nun mal zum Beryllium.
So ein Be-8-Kern kann in einem angeregten Zustand vorliegen, das heißt, er hat eine höhere Energie als der energetisch günstigste Grundzustand. Und klar, wenn man da ein Proton mit hoher Energie reinballert, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Kern in genau so einen angeregten Zustand gerät. Dort bleibt er aber nicht – normalerweise strahlt der Kern ein Photon (“Lichtquant”) aus – als Gammastrahlung, also als Photon mit sehr hoher Energie. Be-8 hat viele solche angeregte Zustände, zwei davon (die hier relevant sind) haben eine Energie von 17,64 bzw. 18,15 MeV. MeV steht dabei für “Megaelektronenvolt” und ist eine Energieeinheit, die man in der Elementarteilchenphysik gern verwendet. Wegen der Einsteinschen Beziehung E=mc² kann man auch Massen in MeV ausdrücken – ein Elektron hat beispielsweise eine Masse von etwa 0,511MeV. Die Energie, die in dem angeregten Be-8 steckt, entspricht also so etwa 34-36 Elektronenmassen.
Das Photon der Gammastrahlung hat selbst keine Ruhemasse, sondern nur eine Energie. (Falls ihr das mit Massen und Ruhemassen verwirrend findet, schaut in diesen Artikel.) Wenn der Atomkern das Photon aussendet (und vorher in Ruhe war), dann fliegen Atomkern und Photon in entgegengesetzte Richtungen auseinander. Das Photon bleibt aber kein Photon, sondern zerfällt jetzt in ein Elektron-Positron-Paar. (Positronen sind die Antiteilchen des Elektrons.) Weil die kinetische Energie des Photons so etwa 35 Elektronenmassen beträgt (es trägt ja die Anregungsenergie von etwa 18MeV weg), entfallen davon 2 Elektronenmassen auf die Ruhemasse von Elektron und Positron, der Rest bleibt als kinetische Energie übrig. Elektron und Positron sind also mit nahezu Lichtgeschwindigkeit unterwegs.
Zusätzlich zur Energieerhaltung muss auch noch die Impulserhaltung gelten. (Impuls ist definiert als Masse mal Geschwindigkeit, anders als die Energie hat der Impuls eine Richtung.) Impulserhaltung könnt ihr beispielsweise beim Billardspiel beobachten – sie ist verantwortlich dafür, dass zwei Billardkugeln immer im 90-Grad-Winkel auseinanderlaufen (wenn man sie nicht mit Effet spielt). Das Photon hatte vorher eine hohe Energie und einen hohen Impuls, damit Elektron und Positron beides mitnehmen können, müssen sie beide in dieselbe Richtung fliegen wie das Photon vorher.
Das neue Teilchen
Wenn man also den Zerfall von Be-8 beobachtet, erwartet man, dass man ein Elektron und ein Positron findet, die nahezu in dieselbe Richtung unterwegs sind. Was man jedoch im ersten Experiment beobachtet hat, war eine erhöhte Wahrscheinlichkeit dafür, dass die beiden mit einem Winkel von etwa 140 Grad auseinanderfliegen. Hier ein Bild aus der Originalveröffentlichung von 2015, relevant sind im Moment nur die schwarzen Datenpunkte mit der Beule bei 140 Grad:
Aus: Krasznahorkay, A.J.; et al. (26 January 2016). “Observation of Anomalous Internal Pair Creation in 8Be: A Possible Indication of a Light, Neutral Boson”. Physical Review Letters. 116 (42501): 042501. arXiv:1504.01527.
Theoretisch würde man also erwarten, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass die beiden Teilchen unter einem solchen Winkel auseinanderfliegen, man beobachtet aber eine deutliche Häufung bei 140 Grad.
Was kann so etwas verursachen? Wenn der Atomkern beim Zerfall kein Photon aussenden würde, sondern ein Teilchen mit einer hohen Masse, dann wäre dieses Teilchen sehr langsam unterwegs. Nehmt als Beispiel an, die Zerfallsenergie wäre 17,64 MeV und unser neues Teilchen hätte ebenfalls eine Masse von genau 17,64MeV. Dann würde die gesamte Energie des angeregten Zustands aufgebraucht werden, um die Masse des neuen Teilchens zu erzeugen, und es wäre nichts mehr übrig, um dieses Teilchen in Bewegung zu versetzen. Der Atomkern würde also in zwei Teile zerfallen (den unangeregten Kern Be-8 und das neue Teilchen), die beide in Ruhe sind.So etwa würde das aussehen:
Aus Particle Physics Models for the 17 MeV Anomaly in Beryllium Nuclear Decays Jonathan L. Feng, Bartosz Fornal, Iftah Galon, Susan Gardner, Jordan Smolinsky, Tim M. P. Tait, Philip Tanedo, https://arxiv.org/abs/1608.03591
Links seht ihr, wie das Proton auf den Li-7-Kern trifft, Be-8 erzeugt, das dann das neue Teilchen “X” aussendet, das ein Elektron (e-) und Positron (e+) zerfällt.
Wenn jetzt unser neues Teilchen in ein Positron und ein Elektron zerfällt, dann müssen diese die Energie und den Impuls des Teilchens mitnehmen. Weil die Energie viel höher ist als die Masse der Teilchen, müssen beide wieder mit nahezu Lichtgeschwindigkeit unterwegs sein – ihr Impuls muss aber Null sein. Impuls ist Masse mal Geschwindigkeit, aber der Impuls hat ja eine Richtung. Wenn die beiden Teilchen eine hohe Geschwindigkeit, aber Impuls Null haben müssen, dann müssen sie also genau in entgegengesetzte Richtung fliegen, der Winkel wäre 180 Grad.
Beobachtet hat man eine Häufung bei etwa 140 Grad. Das bedeutet, dass das neu entstandene Teilchen (wenn es den existiert), nicht die ganze Energie des Zerfalls mitnimmt, aber einen sehr großen Teil. Mit etwas Mathematik und ein paar Formeln aus der Relativitätstheorie (weil wir Teilchen haben, die nahezu mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind), kann man ausrechnen, wie groß die Masse ist. (Die Formel dazu findet ihr in dem oben verlinkten Blogartikel.)
Dass man aus dem Winkel der Teilchen auf die Masse zurückschließen kann, liegt also an der Energie- und Impulserhaltung. (In den meisten Artikeln zum Thema steht nur “Energieerhaltung” [Bis auf einen, der wohl mehrfach durch eine Übersetzungsschleife gegangen ist und in dem etwas von “vitality” stand…] – ich vermute mal, dass das aus einer Presseerklärung stammt, in der man nicht so tief in die Physik einsteigen wollte. [Und wer ganz spitzfindig ist, kann natürlich argumentieren, dass in der Relativitätstheorie Impuls und Energie ohnehin zusammengehören.] Aber da die Energie eine Größe ohne Richtungsabhängigkeit ist, kann man allein aus der Energieerhaltung natürlich keine Richtungsinformation über einen Zerfall bekommen.)
Das Be-8-Experiment stammt aus dem Jahr 2015. Die Arbeitsgruppe hat jetzt ähnliche Experimente mit He-4 gemacht. Es wurden Protonen auf Wasserstoffkerne mit zwei Neutronen (H-3 oder Tritium) geballert, so dass He-4 entsteht. Hier sind die Zerfallsenergien etwas höher, wenn beim Zerfall dasselbe Teilchen entsteht, dann ist dessen Geschwindigkeit also höher, entsprechend sollten Elektron und Positron unter einem kleinerem Winkel auseinanderlaufen, weil das Teilchen, das zwischendurch entstand, schneller war. So sah das Ergebnis aus (entscheidend sind die roten Datenpunkte):
Aus Krasznahorkay, A.J.; et al. (23 October 2019). “New evidence supporting the existence of the hypothetic X17 particle”. arXiv:1910.10459v1
Wie ihr seht, liegt das Maximum jetzt bei etwas mehr als 110 Grad. Rechnet man die zugehörige Masse des hypothetischen Teilchens aus, kommt man auf etwa denselben Wert wie vorher beim Be-8-Experiment, knapp 17MeV.
X17 und die fünfte Kraft
Das hypothetische neue Teilchen hat deshalb den Namen X17 bekommen. 17 wegen der Energie von 17MeV, und X weil man alles, was cool und unbekannt ist, mit einem X versieht. (Fans der Serie “Stargate SG-1” erinnern sich sicher gern an “Wurmloch X-treme!”…)
Was ist X17 für ein Teilchen? Es zerfällt in ein Elektron und ein Positron, daraus kann man einige Eigenschaften ableiten. Elektron und Positron sind elektrisch entgegengesetzt geladen, X17 muss also (wie das Photon) elektrisch neutral sein. X17 muss auch ein sogenanntes “Boson” sein – ein Teilchen wie das Photon oder das Higgsteilchen, das entweder einen Spin von 0 oder 1 hat. (Expertinnenhinweis: Beide Spinwerte sind möglich – das Teilchen könnte beim Kernzerfall ja einen Bahndrehimpuls haben.)
Der Spin ist eine Teilcheneigenschaft, die man sich ein wenig so vorstellen kann, als würde sich ein Teilchen um seine Achse drehen. Er ist deswegen wichtig, weil Teilchen mit Spin 0, 1 oder 2 (Bosonen genannt) sich ganz anders verhalten als Teilchen mit Spin 1/2 oder 3/2 (Fermionen). Materieteilchen sind immer Fermionen, beispielsweise Elektronen, Neutronen, Protonen oder Quarks. Bosonen dagegen können von Materieteilchen erzeugt werden, ohne dass diese ihre Eigenschaften fundamental ändern, und sind so dafür verantwortlich, dass Teilchen miteinander wechselwirken. Geladene Teilchen beispielsweise erzeugen Photonen und ziehen sich deshalb elektrisch an oder stoßen sich ab. (Diese Photonen kann man allerdings nicht direkt sehen, ihre Eigenschaften sind etwas anders als die von Photonen des sichtbaren Lichts.)
Das neue Teilchen ist also ein Boson – und könnte damit eine Wechselwirkung zwischen anderen Teilchen hervorrufen. Deshalb wird in den Schlagzeilen auch immer von der “fünften Kraft” gesprochen – es wäre eine Wechselwirkung zusätzlich zu Gravitation, Elektromagnetismus und der schwachen und starken Kernkraft.
Das neue Teilchen könnte dann – sehr spekulativ – gleich noch andere Probleme der Physik lösen. Beispielsweise könnte es etwas mit der dunklen Materie zu tun haben. Das Teilchen selbst kann nicht die dunkle Materie sein, weil es ja nur sehr kurzlebig ist und dann zerfällt, aber die dunkle Materie könnte eine Wechselwirkung mit diesem Teilchen haben und deshalb andere Eigenschaften haben als bisher angenommen. (Auch das ist detaillierter bei particlebites erklärt). Es könnte auch dafür verantwortlich sein, dass das magnetische Moment des Myons, eines Elementarteilchens ähnlich zum Elektron, aber mit höherer Masse, von den theoretischen Vorhersagen abweicht.
Allerdings ergibt sich auch ein Problem durch diese Wechselwirkungen: Andere Experimente haben bisher ja keinen Hinweis auf so ein Teilchen geliefert. Wenn man beispielsweise Elektronen und Positronen aufeinanderschießt, müsste man das Teilchen ja auch erzeugen können. Bisher wurde da nichts gefunden – wobei man aber sagen muss, dass natürlich dieser Energiebereich bisher auch nicht besonders intensiv untersucht wurde. Experimente am CERN, bei denen Elektronen auf ein festes Ziel geschossen werden, haben im relevanten Energiebereich bisher keinen Hinweis auf das Teilchen gefunden, so dass die Stärke der Wechselwirkung zwischen diesem Teilchen und Elektronen auf relativ enge Grenzen eingeschränkt wurde.
Fazit
Bisher gibt es zwei Experimente einer Arbeitsgruppe, die Hinweise auf X17 geliefert haben. Eine unabhängige Wiederholung dieser Experimente gibt es bisher nicht, ebensowenig wurde das Teilchen in anderen Experimenten (beispielsweise Teilchenbeschleunigern) gefunden. Insofern ist meiner Ansicht nach Skepsis angesagt, aber natürlich sollte man das Phänomen auf jeden Fall weiter experimentell untersuchen.
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