Eine freie Nacht

Es war Wochenende, und die Hexenkinder hatten schulfrei. Wyveria lag vor Mirandas Ofen und döste vor sich hin, während Miranda in ihrem Sessel saß und nachdachte. Sie dachte an all die vielen Dinge, die Wyveria noch lernen musste, und daran, dass es außer mit dem Laufen und Schwimmen bisher noch mit gar nichts so richtig klappen wollte. Da klopfte es an der Tür; Draconia und Netti waren gekommen.

„Hallo Ihr zwei“, begrüßte Miranda sie und sagte dann, „was meint ihr, was wir heute versuchen sollen?“

„Schulfrei!“, sagte Wyverias Stimme in ihren Köpfen.

„Das geht doch nicht“, versuchte Miranda sie zu überzeugen, „Du musst doch noch so viel lernen.“

„Das ist ungerecht“, erwiderte Wyveria nur und drehte ihren Kopf von Miranda weg.

Miranda ging zu ihr hinüber und streichelte über Wyverias Kopf. „Ich weiß ja, dass Du keine Lust hast, aber Du weißt doch auch, wie wichtig es ist, dass Du alles lernst, nicht wahr?“

„Hexen haben auch schulfrei“, sagte Wyveria immer noch schlecht gelaunt.

Miranda überlegte gerade, wie sie Wyveria überreden konnte, doch noch etwas lernen zu wollen, da sagte Netti: „Meint Ihr nicht, dass sie Recht hat? Ihr müsst Euch ja auch ab und zu mal erholen und eine freie Nacht haben, stimmt’s?“

„Schon“, erwiderte Miranda, „aber wir müssen auch nicht bald eine Drachenprüfung bestehen.“

„Trotzdem“, unterstützte jetzt auch Draconia Wyveria. „Nach dem Wochenende sind wir ja auch erholter und können besser lernen. Vielleicht ist das bei Wyveria ja auch so.“

„Meint ihr wirklich?“ fragte Miranda. „Was möchtest Du denn heute machen?“, fragte sie dann Wyveria.

Wyveria reckte ihren Kopf in die Höhe und schaute aus dem Fenster zum Himmel. Es war ein schöner, sonniger Herbsttag gewesen und die Luft draußen war immer noch warm. „Schwimmen“, sagte sie bestimmt.

„Gut, gehen wir also schwimmen.“

Es dauerte nicht lange, und die Freundinnen kamen am Badesee an. Als sie ihre Badeanzüge anzogen merkten sie, dass es doch gar nicht so warm war, wie sie gedacht hatten. Während Draconia sie wieder mit ihrem Zauberspruch warm zauberte, rannte Wyveria bereits den Strand hinunter. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie ins Wasser und schoss davon, so dass die Wellen hoch aufspritzten. Sie sauste hin und her, bis schließlich auch die anderen im Wasser waren. Dann schwamm sie zu ihnen hin und sagte telepathisch „Wettschwimmen!“, und war schon auf dem Weg zum anderen Seeufer.

Die drei Hexenkinder versuchten ihr zu folgen, so gut es ging. „Ich krieg Dich!“, schrie Draconia, und gab sich viel Mühe. Sie schwamm schneller als Miranda und Netti, aber Wyveria vermochte sie nicht einzuholen. Da hatte Miranda eine Idee. Sie hatte ihren Zauberstab in ihren Badeanzug gesteckt, holte ihn hervor und verwandelte sich in einen großen Thunfisch, denn sie wusste, dass diese besonders schnell schwimmen konnten.

Kaum hatte sie die Fischgestalt angenommen und den Zauberstab mit ihrem Fischmaul gepackt, da schoss sie auch schon durchs Wasser. Im Nu war Miranda an Draconia und kurz danach auch an Wyveria vorbeigesaust und kam zum anderen Seeufer. Dort sprang sie mit einem Satz in die Luft, wobei sie sich zurückverwandelte. „Gewonnen!“, schrie sie begeistert.

Wyveria kam herangeschwommen und sagte „Geschummelt!“, breitete einen Flügel aus und spritzte Miranda nass. Wie auch beim letzten Mal war im Nu eine wilde Wasserschlacht im Gang. Wegen ihrer großen Flügel war Wyveria im Vorteil – sie spritzte so viel Wasser auf, dass sie völlig hinter einem Tropfenvorhang verschwand.

„Wir müssen zusammenarbeiten!“, rief Draconia den beiden anderen Hexenkindern zu, und dann umzingelten sie Wyveria, so dass immer zwei von ihnen vor ihr und eine hinter ihr schwammen. Wyveria versuchte, sich so schnell es ging im Kreis zu drehen, um sie alle mit ihren Wasserfontänen zu erwischen, aber es war immer eine Hexe in ihrem Rücken und konnte sie ebenfalls nassspritzen. Sie alle prusteten und schnaubten, denn sie hatten alle Mund und Nase voll Wasser. Schließlich japste Netti „Ich kann nicht mehr“, und dann schwammen sie alle drei zum Ufer.

Wie beim letzten Mal entzündeten sie ein Lagerfeuer, und wie beim letzten Mal stellte Netti Wyveria auch diesmal ein Rätsel:

„Zwei sind’s, die nebeneinander stehen

und alles klar und deutlich sehen,

doch immer eins das andere nicht

und sei’s in hellem Tageslicht.“

Miranda überlegte, wer wohl nebeneinanderstehen und alles sehen könnte. Sie hatte eine Weile erfolglos gegrübelt, dann dachte sie, ‘Hmm, sehen tut man jedenfalls mit den Augen.’ „Ach so, ich hab’s!“, rief sie laut. Es war das erste Mal, dass sie ein Rätsel schneller als Wyveria gelöst hatte. Doch kurz darauf öffnete Wyveria ihre Augen und schaute auf: „Das ist ein Menschenrätsel, kein Drachenrätsel“, sagte sie. „Meine Augen stehen nämlich gar nicht nebeneinander.“

„Stimmt“, sagte Netti, denn Wyverias Augen lagen ja etwas seitlich an ihrem Kopfs, nicht nebeneinander an der Vorderseite, „aber du hast es ja trotzdem herausbekommen.“

„Tauchen!“, sagte Wyveria plötzlich und rannte wieder zum See hinunter. Die anderen folgten ihr, aber wie zuvor war Wyveria schon weit hinausgeschwommen, als sie noch nicht einmal ganz im Wasser waren. Miranda sah, wie Wyveria ein wenig aus dem Wasser herauskam und dann Kopf voran untertauchte. Für einen Moment war ihr langer Schwanz zu sehen und dann war es still.

Die Hexenkinder schwammen zu der Stelle, wo Wyveria untergetaucht war, und Miranda und Draconia tauchten ebenfalls. Unter Wasser war es dunkel, und von Wyveria war nichts zu sehen. Auch als sie wieder auftauchten, gab es von Wyveria noch keine Spur.

„Die taucht aber lange“, sagte Netti.

„Stimmt“, antwortete Miranda, und nachdem noch ein Moment vergangen war, fügte sie hinzu, „ihr wird doch nichts passiert sein? So lange kann man doch gar nicht tauchen.“ Sie konzentrierte sich und rief dann „Wyveria!“, in der Hoffnung, dass diese sie zumindest telepathisch hören und ihr antworten würde. Doch alles blieb still.

„Wir müssen ihr helfen!“, rief Miranda und tauchte wieder in das dunkle Wasser hinab, konnte aber nichts erkennen. „So geht es nicht“, sagte sie, als sie wieder aufgetaucht war. Sie zauberte sich mit ihrem Zauberstab ein Hexenlicht und dann eine Kugel aus Luft um ihren Kopf, um länger unter Wasser bleiben zu können. Wieder tauchte sie hinab. Draconia tat es ihr gleich und tauchte ebenfalls. Netti, die ja noch nicht so gut zaubern konnte, blieb an der Oberfläche und rief immer wieder nach Wyveria.

Miranda und Draconia tauchten immer tiefer. Auch mit dem Hexenlicht sahen sie von Wyveria keine Spur. Schließlich kamen sie zum Grund des Sees, der mit langen Algensträngen bewachsen war. „Hoffentlich hat sie sich nicht in den Algen verheddert“, dachte Miranda verzweifelt und schwamm zwischen den Pflanzen herum, so gut es ging. Wyveria aber blieb verschwunden, und Mirandas Angst wurde immer größer.

Plötzlich hörte sie etwas – es war ein leises Lachen. Als sie sich darauf konzentrierte, merkte sie, dass sie es nicht wirklich hörte, sondern dass es nur in ihrem Kopf erklang. „Wyveria?“, dachte sie hoffnungsvoll, aber vom Drachenkind war noch immer nichts zu sehen. War sie vielleicht wieder aufgetaucht? Miranda gab Draconia ein Zeichen und die beiden schwammen wieder zur Oberfläche. Kaum waren sie dort angekommen, als neben ihnen Wyveria mit einem Satz durch die Wasseroberfläche brach und mit einem lauten Platsch wieder eintauchte.

„Reingelegt!“, rief sie und lachte erneut übermütig in ihren Köpfen.

„Bin ich froh, dass Dir nichts passiert ist“, sagte Miranda und schwamm zu Wyveria hinüber, um sie kurz in die Arme zu nehmen. „Musstest Du uns so einen Schrecken einjagen?“

„Ich wollte doch tauchen“, erklärte Wyveria.

„Ja, aber woher sollten wir denn wissen, dass Du so lange tauchen kannst? Wieso kannst Du überhaupt so lange die Luft anhalten?“

„Drachen müssen das können, wenn sie in großer Höhe fliegen. Da ist die Luft auch sehr dünn, und wir können nicht richtig atmen.“

„Jedenfalls bin ich froh, dass Dir nichts passiert ist. Aber mach sowas bitte nicht nochmal, hörst Du?“

„Na gut“, antwortete Wyveria etwas kleinlaut.

Sie tobten noch eine Weile im Wasser herum, dann machten sie sich auf den Weg nach Hause.

Kommentare (2)

  1. #1 ChristophM
    Mainz
    10. Mai 2020

    Mein sechsjähriger Sohn freut sich jeden Tag auf die Geschichte. Herzlichen Dank. Der ältere Bruder bemerkte gerade, man merkt, dass das ein Physiker geschrieben hat, z.B. wegen Luftdruck und so. 🙂
    Und ja wir sind einen Monat im Rückstand mit dem lesen.
    Auf jeden Fall: Herzlichen Dank für die Geschichte.

  2. #2 MartinB
    11. Mai 2020

    @ChristophM
    Freut mich sehr, wenn es gefällt, 6 Jahre ist auch genau das richtige Alter. (Und schön auch zu hören, dass es trotz rosa-hellblau-Falle anscheinend möglich ist, dass ein Junge eine Geschichte mag, in der praktisch nur weibliche Charaktere vorkommen. [In späteren Geschichten gab’s dann auch ne Zaubererschule].)