Der Drachenrat

Wenige Tage später war es soweit: Miranda, Netti und Draconia machten sich mit Wyveria auf den Weg ins Drachenland. Da sie eine längere Strecke fliegen mussten, hatte Miranda einen Korb an ihrem Besen befestigt, in dem Wyveria bequem sitzen konnte. So musste sie sie nicht die ganze Zeit auf dem Arm halten. Während des Fluges dachte Miranda noch einmal über Wyverias Unterricht nach: Laufen und Schwimmen konnte sie, aber Zaubern, Fliegen und Feuerspucken gelangen ihr kaum, und das Sprechen schließlich klappte überhaupt nicht.

„Doch!“, protestierte Wyveria in Mirandas Kopf, „natürlich kann ich sprechen!“ Aber Miranda seufzte nur.

Sie mussten eine Weile fliegen, über hohe Berge, eine Küste entlang, dann über ein Meer, bis sie schließlich zur großen Wüste Sahara kamen, in der das Drachenland lag. Unter ihnen erstreckten sich weite Sanddünen und Felsen, doch kein einziger Drache war zu sehen.

„Weißt Du, wo der Drachenrat stattfindet?“, fragte Netti.

„Nein, keine Ahnung. Ich dachte, wir könnten einen der Drachen fragen, aber hier ist ja nirgends einer.“

Sie flogen ziellos über dem Drachenland hin und her in der Hoffnung, einen Hinweis auf den Drachenrat zu finden. Es war zwar noch mitten in der Nacht, doch bald würde es sicher hell werden. Der Drachenrat sollte bei Sonnenaufgang stattfinden.

„Wir dürfen auf keinen Fall zu spät kommen!“, sagte Miranda und flog noch schneller.

„Da vorn fliegt eine Drachin“, sagte Wyveria plötzlich telepathisch. Einen Moment später konnten sie es alle sehen: Ein großer Drache flog langsam über das Drachenland dahin. Er war grün und hatte faltige Flügel und seine Schuppen sahen ein wenig matt aus und glänzten nicht. Woher Wyveria wusste, dass es ein weiblicher Drache war, konnte Miranda allerdings nicht sagen.

Sie flogen hinter der Drachin her, um sie einzuholen. Das war nicht schwer, denn sie flog langsam über die Wüste dahin, ihre Flügel schlugen nur träge auf und ab. Als sie näher kamen, drehte sie ihren Kopf zu ihnen herum. „Ich grüße Euch“, sagte sie mit lauter, aber etwas kratziger Stimme. „Mein Name ist Krallenschwinge.“

Miranda stellte sich und die anderen vor. „Wir suchen den Drachenrat. Kannst Du uns den Weg sagen?“

„Fliegt mit mir. Ich muss auch zum Drachenrat fliegen.“

So flogen sie neben Krallenschwinge dahin, die immer noch sehr gemächlich über das Drachenland zog. Miranda schielte immer wieder zu Krallenschwinge hinüber. Ihre Stimme hatte durchaus freundlich geklungen, aber Miranda war sich nicht sicher, ob sie ihnen wirklich wohlgesonnen war.

Krallenschwinge drehte ihren Kopf zu Mirandas Besen. Auch sie hatte die großen, schillernden Augen der Drachen, die nun Wyveria betrachteten: „Du bist also Wyveria“, sagte sie. Miranda hörte Wyverias Antwort nicht – anscheinend hatte sie nur mit Krallenschwinge gesprochen, aber Krallenschwinge lachte leise: „Wir werden sehen“, sagte sie nur.

Eine Weile flogen sie schweigend dahin. Der Himmel war inzwischen nicht mehr nachtschwarz, sondern begann, grau zu werden. Miranda wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Sonne aufging. Vom Drachenrat war nichts zu sehen.

„Ist es noch weit bis zum Drachenrat?“, fragte sie schließlich, ein wenig besorgt.

„Ein Stück ist es noch“, antwortete Krallenschwinge. Sie schien die Ruhe selbst zu sein und sich keine Sorgen zu machen, dass sie zu spät kommen könnte.

Wieder verging eine Weile, und man konnte bereits die Stelle erkennen, an der die Sonne gleich aufgehen würde. Wenn Krallenschwinge doch nur schneller fliegen würde! Miranda wollte sie nicht verärgern, aber schließlich sagte sie doch: „Müssen wir nicht langsam dort sein? Der Drachenrat soll doch bei Sonnenaufgang anfangen.“

Wieder lachte Krallenschwinge ein wenig: „Mach Dir keine Sorgen. Man wird bestimmt nicht ohne uns anfangen.“

Miranda aber war nicht beruhigt. Wenig später war es soweit: Die grelle Sonnenscheibe kletterte über den Horizont und tauchte das ganze Land in ein rot-goldenes Licht. Miranda hatte keine Augen für die Schönheit der Wüstenlandschaft, über die sie hinwegflogen – ihr Herz krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, wie wütend die Drachen sein würden, dass sie zu spät kamen. Krallenschwinge schien die Verspätung jedoch nicht zu kümmern. Sie flog genauso gemächlich dahin wie zuvor.

„Können wir uns nicht etwas mehr beeilen?“, flüsterte Netti leise Draconia zu. Krallenschwinge aber hatte es gehört und sagte „Ich bin alt und kann nicht mehr so schnell fliegen. Aber macht Euch keine Sorgen, der Drachenrat wartet.“

Die Sonne stand schon ein ganzes Stück über dem Horizont, als sie sahen, dass sie auf einen großen kegelförmigen Berg aus hellgrauem Stein zuflogen. Er stand mitten in der Wüste und ragte hoch auf. Krallenschwinge flog mit ihnen den Berghang hinauf. An der Spitze des Berges angekommen, sahen sie vor sich den Drachenrat: Der Berg war ein erloschener Vulkankegel, und sein Inneres lag vor ihnen wie eine riesige Schüssel.

An den Wänden des Kraters gab es Felsen, die wie Treppenstufen übereinander angeordnet waren, aber jeder von ihnen war groß wie ein Haus oder noch größer, und auf ihnen allen saßen Drachen. Die meisten von ihnen waren so groß wie Krallenschwinge, einige sogar noch größer, und als Miranda eine Weile herumschaute, sah sie auf einer Stufe ziemlich weit unten den braunen Drachen sitzen, der ihr Wyveria hatte wegnehmen wollen.

In der Mitte des Kraters, an seinem Boden, war ein großer freier Platz aus weißem Stein. „Landet dort unten!“, sagte Krallenschwinge, und Miranda und ihre Freundinnen steuerten den Boden des Kraters an. Während sie dorthin flogen, sah Miranda an einer Seite einen großen, Felsvorsprung aus schneeweißem Stein, der aussah, als wäre er ein Platz für einen ganz besonderen Drachen. Dorthin flog Krallenschwinge.

Miranda und ihre Freundinnen landeten auf dem Boden und sahen, wie alle Drachen auf sie hinunter schauten. Sie kamen sich winzig vor unter den Blicken so vieler riesiger Drachen, die alle über ihnen auf ihren großen Felsen saßen. Miranda setzte Wyveria auf den Boden und kletterte vom Besen. Die Vier rückten eng zusammen, weil sie alle ängstlich waren, was als nächstes passieren würde.

Da ertönte die Stimme von Krallenschwinge, die durch den ganzen Vulkankegel hallte: „Der Drachenrat ist eröffnet“, sagte sie. Krallenschwinge war auf dem weißen Felsvorsprung gelandet, und als sie gesprochen hatte, drehten sich alle Drachen zu ihr hin und neigten kurz die Köpfe. Nun wusste Miranda zumindest, warum Krallenschwinge sich so sicher gewesen war, dass sie nicht zu spät kommen würden: Krallenschwinge war die Anführerin der Drachen.

Dann aber dachte sie wieder an die Drachenprüfung, und ihr wurde ganz elend vor Angst: Würde sie heute Wyveria für immer verlieren?