Buch 3
Miranda und der schreckliche Winter

Wyveria als Schülerin

Als die kleine Hexe Miranda mit ihrem Drachenpflegekind Wyveria in die Hexenschule flog, fühlte sie sich immer noch ganz erschöpft. Das war nicht weiter überraschend, denn sie hatte gerade eine aufregende Reise hinter sich. Kaum war sie in der Schule angekommen, umringten die anderen Hexenkinder sie und auch ihre Freundin Draconia, die sie begleitet hatte. Die Kinder wollten alles über die Reise ins Drachenland erfahren und über die Drachenprüfung, die Wyveria zu bestehen gehabt hatte.

Die Hexenlehrerin kam ins Klassenzimmer, begrüßte die Kinder, aber die Unruhe war immer noch groß, denn Mirandas Erzählung war noch nicht zu Ende. „Am besten kommst Du mit Wyveria und Draconia nach vorn, und ihr erzählt uns, was ihr erlebt habt.“ Und so verging die erste Unterrichtsstunde mit einer ausführlichen Schilderung der Drachenprüfung.

Schließlich aber war die Erzählung vorbei und alle Fragen der Hexenkinder waren beantwortet.

„Gut“, sagte die Hexenlehrerin. „Nachdem wir nun alles über eure Abenteuer wissen, können wir mit der Zaubertrankkunde weitermachen. Heute sollt ihr lernen, wie man einen Schlaftrank braut.“

Miranda, Wyveria und Draconia setzten sich wieder auf ihre Plätze, und die Hexenlehrerin begann zu erklären. Als Miranda zu Wyveria hinübersah, bemerkte sie, dass diese nicht wie sonst döste oder mit einem Bleistift herumspielte, sondern aufmerksam zuhörte. Noch bevor sie etwas fragen konnte, hörte sie schon Wyverias Stimme in ihrem Kopf: „Natürlich höre ich zu. Schließlich müssen Drachen klug und weise sein, das hat Krallenschwinge doch erklärt. Also muss ich alles lernen.“ Damit drehte Wyveria ihren Kopf wieder nach vorn.

„Nachdem ihr die drei Tropfen Quellwasser in den Schlaftrank getropft habt, lasst ihr vorsichtig zwei Pfefferminzblätter hineinfallen, aber so langsam, dass sie nicht untergehen, sondern auf der Oberfläche schwimmen bleiben. Dann…“

„Was passiert denn, wenn die Pfefferminzblätter untergehen?“, fragte Wyveria telepathisch – laut sprechen konnte sie ja noch nicht.

„Oh Wyveria, schön dass Du so gut aufpasst. Also, wenn die Blätter untergehen, dann verliert der Trank seine Wirkung. Wenn ihr ihn jemandem gebt, dann wird er womöglich noch wacher, aber bestimmt nicht einschlafen. Also, danach setzt ihr den Trank aufs Feuer und lasst ihn eine Viertelstunde lang kochen. Wenn die Zeit um ist, dann nehmt ihr einen silbernen Löffel und rührt den Trank um, und zwar fünfmal im Uhrzeigersinn und siebenmal gegen den Uhrzeigersinn.“

„Woher weiß man das denn? Hat eine Hexe das alles ausprobiert? Erst einmal umrühren – klappt nicht, schade –, dann zweimal umrühren – klappt wieder nicht, Pech gehabt –, und immer so weiter?“, unterbrach Wyveria erneut.

Alle Hexenkinder lachten und auch die Hexenlehrerin schmunzelte. „Nein, das würde ja unendlich lange dauern, das alles auszuprobieren. Aber es gibt sehr kluge Hexen die sehr viel über Magie und Zauberei wissen, und die können sich solche Dinge überlegen. So etwas lernt ihr aber erst, wenn ihr viel älter seid. Übrigens, Wyveria, es ist schön, wenn du dich am Unterricht beteiligst, aber kannst du dich bitte melden wie alle anderen auch, wenn du etwas fragen willst?“

Wyveria saß mit ihrem Hinterteil auf einem Stuhl und hatte die Vordertatzen auf den Tisch gestellt. Sie versuchte, eine Vordertatze in die Luft zu recken, aber sie war nicht sehr gelenkig in den Vorderbeinen, und so kippte sie fast vom Stuhl bei dem Versuch, ihre Tatze hoch genug zu recken. „Nein, ich kann mich nicht melden“, erklärte sie dann.

„Vielleicht mit dem Flügel?“, schlug Miranda vor. Doch als Wyveria den Flügel ausklappte, um ihn in die Höhe zu recken, fuchtelte sie Miranda damit vor dem Gesicht herum. „So geht das nicht“, sagte Miranda. „Ich kann doch nicht jedesmal deinen Flügel im Gesicht haben, wenn du eine Frage stellst.“

„Ich weiß wie es geht“, verkündete Wyveria und reckte ihre Schwanzspitze in die Höhe. Ihr Schwanz war ja ziemlich lang und sehr beweglich, und wenn er senkrecht in die Höhe ragte, konnte die Hexenlehrerin ihn gut erkennen. „Sehr gut Wyveria“, sagte die Hexenlehrerin, „so meldest du dich in Zukunft.“

„So, und nachdem ich euch nun den Schlaftrank erklärt habe, könnt ihr versuchen, ihn zuzubereiten“, sagte die Hexenlehrerin. Die Kinder standen auf und begannen, Zutaten für den Zaubertrank aus den Schränken zu holen. Wyveria blieb auf ihrem Platz sitzen, denn sie konnte zwar lernen, aber einen Zaubertrank konnte sie mit ihren Drachentatzen nicht zubereiten.

„Und du kommst zu mir, Wyveria“, sagte die Hexenlehrerin. Wyveria lief nach vorn und die Hexenlehrerin zog einen Stuhl für sie heran. „Wenn du dich jetzt am Unterricht beteiligen und lernen willst, dann musst du auch lesen können. Das wird eine Weile dauern, aber wenn wir gleich anfangen, hast du es bald gelernt. Pass auf.“

Die Hexenlehrerin nahm ein Blatt Papier und einen Stift und begann, Wyveria die ersten Buchstaben zu erklären. „Das hier ist der Buchstabe ’H’. So sieht ein ’E’ aus, und so ein ’X’. Mit diesen drei Buchstaben fangen wir an, das ist bei Hexen immer so. „

„Gut“, sagte Wyveria nur und sah aufmerksam zu, als die Hexenlehrerin vier Buchstaben hintereinander schrieb. „So, das ist dein erstes Wort. Kannst du die Buchstaben darin erkennen?“

„Natürlich, du hast sie mir doch gerade erklärt. ’H’– ’E’– ’X’– ’E“’, buchstabierte Wyveria telepathisch.

„Das ging schnell“, staunte die Hexenlehrerin. „Jetzt musst Du die Buchstaben direkt hintereinander reihen, ohne Pause.“

Es dauerte eine Weile, denn Wyveria verstand zuerst nicht, wie die Hexenlehrerin es meinte. Aber schließlich hatte sie es begriffen. „’H’ und ’E’ gibt ’He’. Und ’X’ und ’E’ gibt ’Xe’. Also ’He’–’Xe. Das heißt ’Hexe’.“

„Sehr gut. Du lernst wirklich schnell. Soll ich dir noch einen Buchstaben zeigen?“

„Nein, am besten zeigst du mir alle Buchstaben, das geht schneller.“

„Alle auf einmal? So schnell kann man nicht lesen lernen. Ich zeige dir einmal, wie viele es sind.“ Die Hexenlehrerin holte eine Tafel mit einem Alphabet hervor und zeigte sie Wyveria.

„Kannst Du mir die Buchstaben einmal vorlesen?“, bat Wyveria. Die Hexenlehrerin tat es.

„Gut“, sagte Wyveria. Dann schaute sie auf den Schreibtisch der Hexenlehrerin, auf dem ein aufgeschlagenes Buch stand. „Dort steht ’S’ ’C’ ’H’ ’L’ ’A’ ’F’ ’T’ ’R’ ’A’ ’N’ ’K’. Warte, das heißt ’S–c–h–’“. „‘S–c–h’ liest man ‘Sch’“, half die Hexenlehrerin weiter. „Ach so. Also ‘Sch–laft–ran-k’.“ Wyveria überlegte einen Moment. „Schlaftrank!“, rief sie dann telepathisch, „das heißt ’Schlaftrank’!“

„Hast Du so schnell die Buchstaben gelernt? Niemand kann so schnell lesen lernen.“ Die Hexenlehrerin war vollkommen erstaunt.

„Natürlich kann ich das, war doch ganz einfach“, sagte Wyveria stolz.

„Du bist wirklich ein kluger Drache“, sagte die Hexenlehrerin. Sie gab Wyveria ein Buch und ließ sich von ihr daraus vorlesen. Wyveria las langsam, aber mit etwas Hilfe gelang es ihr. Und mit jedem Wort, das sie las, schien es schneller zu gehen.

„So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagte die Hexenlehrerin und schüttelte den Kopf. Dann ging sie zu den Hexenkindern, um zu sehen, wie weit sie mit ihren Zaubertränken waren. Wyveria kletterte auf ihren Stuhl neben Miranda. „Und, was hast du mit der Hexenlehrerin zusammen gemacht?“, wollte Miranda wissen.

„Ich habe lesen gelernt“, antwortete Wyveria stolz.