So, gerade habe ich das Buch “Hail Mary” von Andy Weir gelesen, das hat Florian ja neulich empfohlen.

Und Florian hat recht: Es ist ein tolles Buch, spannend, flüssig geschrieben, mit einem sehr kreativen Weltuntergangsszenario (und sich sowas auszudenken ist nicht leicht, weiß ich aus eigener Erfahrung, den ich habe gerade auch eins entworfen, warum erzähle ich irgendwann…), viel Wissenschaft und Technik und kreativer Problemlösung sowie einigen wirklich netten Überraschungen in der Handlung, also ganz klar eine absolute Leseempfehlung.

Allerdings gab es da ein paar Punkte, die wissenschaftlich nicht ganz zusammenpassten und die ich interessant genug finde, um ein wenig darüber zu schreiben. Um es nochmal klar zu sagen (weil Detailkritik an Büchern gern missverstanden wird, wie ich aus eigener Erfahrung hier im Blog gelernt habe): Es ist ein tolles Buch, wen ihr technische SF mögt, lest es, es ist viiieel besser als der Marsianer.

Alles, was jetzt kommt, setzt voraus, dass ihr das Buch gelesen habt. Habt ihr das nicht, lest nicht weiter, denn es folgen Spoiler.

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Spoiler-Space

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Astrophagen

Die Astrophagen speichern also Energie in Neutrinos, die entsteht, wenn Protonen miteinander mit hinreichend hoher Geschwindigkeit kollidieren.(Nebenbemerkung: Dass jemand weiß, wie kosmische Strahlung funktioniert, aber noch nie von Paarproduktion gehört hat, scheint mir sehr unwahrscheinlich – aber das war ja nur ein Plot-Trick, damit ein Erklär-Dialog eingebaut werden konnte.) Diese Geschwindigkeit erreichen sie, wenn man sie genügend stark aufheizt, und zwar auf 96,415 Grad Celsius, wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe (bin zu faul, nachzugucken), weil thermische Energie letztlich kinetische Energie ist und die Protonen bei dieser Temperatur die richtige Geschwindigkeit erreichen.

Tja, so funktioniert Temperatur leider nicht – Moleküle, Atome oder Protonen haben bei einer bestimmten Temperatur eine bestimmte mittlere Bewegungsenergie und damit eine mittlere Geschwindigkeit, aber es ist nicht so, dass es bei einer bestimmten Temperatur einen genau bestimmten Wert der Geschwindigkeit gibt. Auch bei niedrigeren Temperaturen werden einige der Protonen die richtige Geschwindigkeit haben, es sind da nur etwas weniger.

Wenn es also eine kritische Geschwindigkeit gibt, bei der die Reaktion beginnt, dann würde sie schon bei viel niedrigeren Temperaturen anfangen und dann immer stärker werden, so wie bei Wasser, das wir aufheizen, auch schon die ersten Moleküle abdampfen, bevor das Wasser kocht.

Was dann wieder halbwegs passt, ist, dass man die Astrophagen nicht auf eine höhere Temperatur bringen kann, denn dann wird überschüssige Energie einfach in Neutrinos gespeichert. Die Situation ist auch hier ein wenig wie bei einem offenen Kochtopf, wo die schnellsten Wassermoleküle immer in die Luft entkommen, so dass ihr im Wasser selbst keine 100 Grad erreicht – das kennt jeder, der schon mal einen Wasserkocher nicht richtig zugemacht macht und hinterher die ganze Küche trockenwischen durfte, weil überall der kondensierte Dampf von den Schränken läuft. So soll es wohl auch bei den Astrophagen sein: Alle Protonen, die zu schnell sind, produzieren Neutrinos und kühlen deshalb ab.

Was aber meiner Ansicht nach wieder nicht passt ist, dass es auch nicht möglich ist, die Astrophagen unter die kritische Temperatur abzukühlen – jedenfalls wurde das, wenn ich mich recht erinnere, nicht wirklich erklärt. Man kann spekulieren, dass sie irgendeinen Mechanismus haben, der dann die Neutrino-Energie wieder zurückwandelt, ohne sie als Photonen abzustrahlen, sondern sie wieder in Bewegungsenergie der Protonen überführt.

Mit etwas Fantasie kann man die Idee in meinen Augen übrigens retten. Wir können uns zum Beispiel vorstellen, dass die Protonen (die ja in irgendeiner Art von Membran sitzen sollen) dort eine regelmäßige Anordnung besitzen und so etwas wie einen Kristall bilden. Dann könnte es in diesem Kristall einen Phasenübergang geben, zum Beispiel, weil sich die Spins in gewisser Weise anordnen müssen, damit die Neutrino-Reaktion passiert; vielleicht dominiert bei niedrigen Temperaturen eine parallele Ausrichtung der Spins, bei höheren Temperaturen dann eine anti-parallele Ausrichtung, und die ermöglicht dann erst die Neutrino-Reaktion. Wenn wir dann noch eine passende Rückreaktion erlauben (vielleicht sind es ja auch die Neutrinos, die sich irgendwie kristallin anordnen; wie die im Astrophagen gespeichert werden, blieb ja auch ungeklärt), dann hätten wir gleich noch so etwas wie eine Schmelzwärme, die dann dafür sorgt, dass beim Abkühlen erst mal Neutrinoenergie wieder in die Protonen und damit ins Material zurückfließt. Dann bleiben wir trotz Energieentzug bei konstanter Temperatur, ähnlich wie beim Gefrieren von Wasser. Ich denke, mit etwas Mühe könnte man daraus ein halbwegs plausibles Szenario zusammenzimmern. [Vielleicht sollte ich mich als technischer Berater für SF-Filme bewerben?]

Ein anderer Aspekt der Astrophagen hat mir übrigens ein paar Minuten echtes Kopfzerbrechen gemacht: Wir können sie in heißes Wasser tauchen und speichern Energie, die wir dann als Photonen freisetzen, die wir dann z.B. als Antrieb nutzen können. Widerspricht das nicht dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, nachdem es nicht möglich ist, einfach einem Wärmebad Energie zu entziehen und diese vollständig in Wärme umzuwandeln? Wenn ihr wollt, könnt ihr selbst mal kurz überlegen, warum das nicht der Fall ist.

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Denkpause

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Antwort: Die Photonen werden ins All abgestrahlt, und das ist bei einer Temperatur von nur 3K. Wenn wir uns vorstellen, wir würden das Ganze in einem abgeschlossenen, verspiegelten Behälter machen, dann würde dieser von mehr und mehr Strahlung erfüllt werden, bis die Strahlung im Behälter dieselbe Energie enthält wie die Photonen im Antrieb. Unser Schiff wird dann von allen Seiten von Photonen getroffen und dann ist es vorbei mit dem Antrieb. Wir nutzen also tatsächlich die Kälte des Weltalls bei diesem Antrieb aus und mit dem 2. Hauptsatz ist alles o.k.

Der Planet Erid

Das zweite Thermodynamik-Problem, das ich sehe, hängt mit dem Planeten Erid zusammen. Wir erfahren, dass seine Atmosphäre für Strahlung praktisch vollkommen undurchsichtig ist; er wird zwar von der Sonne aufgeheizt, aber auf der Oberfläche kommt keine Strahlung an, weil die Atmosphäre so dicht ist.

Das ist ein Problem nicht für die Physik, aber für die Biologie. Auf dem Planeten muss es ja irgendeine Art von “Pflanzen” geben, also Primärproduzenten, die eine andere Energieform in chemische Energie umwandeln und dabei biologisches Material aufbauen, so wie es Erdpflanzen mit Licht tun, um Zucker zu produzieren. Auf der Erde ist das kein Problem – wir bekommen hochenergetische Photonen von der Sonne, die genau dazu genutzt werden können.

Wenn es aber keine Photonen mit hoher Energie gibt, woher nehmen wir dann die Energie, oder genauer gesagt, die Freie Energie? Jetzt haben wir nämlich wirklich eine Situation, bei der der 2. Hauptsatz der Thermodynamik zuschlägt: Die “Pflanzen” befinden sich in einem “Wärmebad” bei konstanter Temperatur, dem können sie nicht einfach so Energie entziehen und in chemische Energie umwandeln. (jede Reaktion, die durch Absorption von thermischen Photonen möglich ist, kann durch Stoßprozesse etc. mit der Umgebung auch passieren, und umgekehrt kann alles, was sich so bildet, wieder zerfallen. Der Trick bei der Photosynthese ist ja, dass wir ein Molekül mit hoher Bindungsenergie bauen, bei dem aber eine Energiebarriere überwunden werden muss, damit es wieder zerfallen kann. Diese Barriere kann maximal so hoch sein wie die Energie der Photonen, aber wenn das bloß thermische Photonen sind, dann kann die Barriere eben auch durch thermische Energie überwunden werden und das Molekül ist nicht stabil.)

Dazu wird im Buch schlicht nichts gesagt, was ein bisschen schade ist. Mit etwas Fantasie kann man sich schon etwas ausmalen, aber dazu hätte ich gern etwas gelesen: Wir wissen ja, dass das Leben auf Erid aus dem All kam. Es könnte also so sein, dass die ersten Primärproduzenten weit oben in der Atmosphäre existiert haben, vielleicht bevorzugt auf der Nachtseite (der Planet rotiert ja sehr schnell), wo sie die Wärmestrahlung des Planeten aufnehmen, während sie selbst in größerer Höhe von Kälte umgeben sind; sozusagen indirekte Photosynthese. Später bildeten sich dann Organismen, die gezielt in die Tiefe getaucht sind, um dort thermische Energie aufzunehmen, die sie dann weiter oben freisetzen. Daraus entwickelte sich dann eine Art Phytoplankton, das in einem ewigen Kreislauf durch die Atmosphäre saust. Erid hat ja eine sehr dichte Atmosphäre, so dass sich trotz der hohen Schwerkraft fliegende Lebewesen leicht bewegen können – es entstanden dann also größere fliegende Lebewesen und wir haben ein Ökosystem in der Luft ähnlich wie auf der Erde im Meer. Leben am Boden würde sich dann zunächst von herabsinkenden Resten aus der Atmosphäre ernähren (ähnlich wie in Teilen der Tiefsee oder z.B. am Waldboden). Später könnten dann komplexere Lebewesen entstehen, zum Beispiel solche, die am Boden sitzen und das “Plankton” aus der Atmosphäre herausfiltern.

Denaturierung

Ein weiteres kleines Problem sah ich erstmal in der hohen Temperatur der Astrophagen. Wenn die Astrophagen immer eine konstante Oberflächentemperatur von 96 Grad haben, dann ist es auch in ihrem Inneren 96 Grad heiß. Die meisten Proteine zersetzen sich bei solchen Temperaturen (wie man vom Eierkochen weiß) – aber immerhin gibt es auf der Erde Extremophile, die Temperaturen von 100 Grad und mehr aushalten können. Das ist also nicht vollkommen unplausibel

Bei den Eridianern ist es noch extremer, die leben ja bei Temperaturen von 200 Grad und mehr. Ob da extremophile Anpassungen noch möglich sind, scheint mir fraglich (vielleicht habe ich da auch was überlesen und es wurde detaillierter erklärt) – und spätestens als Rocky sich regeneriert hat und alle seine Kühlöffnungen für Tage verstopft waren, erreichte das Innere seines Körpers sicherlich eine einheitliche Temperatur und jede Form von Kühlung entfällt.

Aber vor 50 Jahren oder so hätte vermutlich auch niemand gedacht, dass es bakterien geben kann, die 100 Grad aushalten können, von daher ist der Einwand nicht so ernstzunehmen.

Ungeklärte Fragen

Zwei Dinge sind mir entgangen, vielleicht hat jemand von euch besser aufgepasst:

Wurde irgendwann erklärt, warum die Astrophagen perfekte Lichtabsorber waren, auch für die sehr langen Wellenlängen? Das scheint mir aus der Protonenreaktion nicht direkt zu folgen und ich erinnere mich nur an sehr halbherzige Erklärungsansätze.

Und das zweite, was ich nicht verstanden habe, ist die interstellare Evolution: Erde und Erid wurden also von Organismen besiedelt, die von Tau Ceti stammten, und zwar vor so knapp 4 Milliarden Jahren. Aber welche Organismen waren das? Es waren ja sicher nicht die Astrophagen, denn deren Evolution ist ja neu und sie sind erst vor kurzem von tau Ceti ausgewandert und haben die Erde erreicht. War es eine Art Vorstufe der Astrophagen, die keine Protonenreaktion benutzen, sondern etwas anderes? Waren es Lebewesen des Tau-Ceti-Planeten, die aus der Atmosphäre kamen?

Zum Abschluss nochmal ganz klar: Das hier ist Detailkritik an Kleinigkeiten – das Buch ist trotzdem hervorragend. (Aber es hätte vielleicht noch einen Tick besser sein können…)

Kommentare (13)

  1. #1 roel
    27. Juli 2021

    Schön hier wieder mehr von Dir zu lesen. Ich merke mir das Buch auf jeden Fall vor.
    “ich habe gerade auch eins entworfen” hört sich nach mehr an.

  2. #2 MartinB
    28. Juli 2021

    @roel
    Ja, früher oder später suche ich bestimmt wieder beta-Tester…

  3. #3 RPGNo1
    29. Juli 2021

    Nach Florians Reszension und der hiesigen Beschreibung bin ich auch am Überlegen, ob ich mir das Buch kaufen soll. Es könnte was für den Herbsturlaub sein. Mal schauen.

  4. #4 MartinB
    30. Juli 2021

    @RPGNo1
    Ja, sollst Du 😉

  5. #5 roel
    1. August 2021

    Das hört sich gut an.

  6. #6 stone1
    7. August 2021

    Alles, was jetzt kommt, setzt voraus, dass ihr das Buch gelesen habt. Habt ihr das nicht, lest nicht weiter

    Och Mist. Hatte mich auf einen neuen Artikel gefreut, aber jetzt darf ich ihn gar nicht lesen. Menno. 🙁

  7. #7 rolak
    8. August 2021

    jetzt darf ich ihn gar nicht lesen

    Wg ihm rutschte das Buch beim letzten Wechsel an die Spitze der Leseliste – dauert nur ein wenig, da es das aktuelle Pausenbrotuch ist und werktäglich max 45′ drankommt.
    Hab mir allerdings die abschließenden beiden Fragen notiert, für ein ordentliches Priming…

  8. #8 MartinB
    8. August 2021

    @stone1
    Das ist wie im Deutschunterricht oder im Uni-Seminar, da muss (oder sollte) man das Buch auch lesen…

  9. #9 Felix
    München
    31. August 2021

    Was ich mich gefragt habe:

    Die Amöben fressen die vollgefressenen Phagen auf. Dabei passiert anscheinend nichts ausser dass sie durchsichtig werden und sich auflößen. Wenn man davon ausgeht dass dabei die gespeicherten Neutrinos “freigelassen” werden, müsste den Beobachter dabei nicht das Mikroskop um die Ohren fliegen?

  10. #10 MartinB
    1. September 2021

    @Felix
    Guter Punkt.

  11. #11 rolak
    18. September 2021

    Guter Punkt

    Nö, die Neutrinos werden als sie selber frei und reagieren danach bekannt unwillig mit egal was außerhalb der lebendigen Masters of Super­Wirkungs­querschnitt. Für euch getestet – von unbekannten Experimentator*en im IceCube, auf Seite 262 der deutschen Ausgabe, eine knappe Seite vor dem LogikLoch mit der Paarbildung.

    Hat wg Zwangspause etwas länger gedauert – doch auf die beiden abschließenden Fragen des Artikels (erwähnt, warum Superabsorber?, welche Vorstufe?) gibts meinerseits trotzdem nur die unbefriedigendste aller Antworten: meines Wissens nicht. Allerdings könnte ersteres ein Nebeneffekt des zum Neutrinos-Halten benötigten MegaQuerschnittes sein.

  12. #12 MartinB
    18. September 2021

    @rolak
    Aber wieso konnten die Neutrinos dann wieder ihre Energie zurück an die Protonen abgeben? Weil sie solange in dem speziellen, nicht näher erläuterten Zustand gespeichert waren? Das mag passen.

  13. #13 rolak
    18. September 2021

    wieso?

    Wenn ich raten darf: wg irgendeines Details der Physik im HailMary-Universum, zu uns gebracht qua argumentum scriptorum, vulgo ‘brauch ich hier, also ist es so’.