Am Montag habe ich zum Krieg im Gaza geschrieben und trotz meinem Versuch einen Teilaspekt so sachlich wie möglich zu sezieren, wurde in den Kommentaren schnell klar, dass die Diskussion zu diesem Thema anscheinend immer schwierig ist. Gute Absichten reichen offensichtlich nicht aus.
Festgefahrene Meinungen können manchmal durch einen Perspektivenwechsel überdacht werden. Darum möchte ich ein Gedankenexperiment aufnehmen, dass vor ein paar Tagen von Stephen M. Walt in seinem Foreign Policy Blog vorgeschlagen wurde und hohe Wellen Schlug. Sein Gedankenexperiment ist sehr auf die USA bezogen, ich denke aber, dass die geistige Gymnastik durchaus interessant sein kann. Selbst wenn man denkt, dass dieses Experiment einem nichts neues aufzeigt, dann ist die interessante Frage, warum dem so ist. Hier also zuerst Walt im O-Ton (genauer gesagt meine Übersetzung davon) und dann kurz meine Spekulationen dazu.
Stellen Sie sich vor, dass Egypten, Jordanien und Syrien den Sechstagekrieg gewonnen haben, mit der Konsequenz eines massiven Exodus von Juden aus dem Territorium Israels. Stellen Sie sich vor, dass die siegreichen arabischen Staaten danach entschieden, den Palästinensern zu erlauben, einen eigenen Staat auf dem vormaligen Staatsgebietes Israels zu errichten (dies ist zwar unwahrscheinlich, aber es handelt sich um ein Gedankenexperiment). Stellen Sie sich vor, dass ungefähr eine Million Juden als Staatenlose Flüchtlinge in einem kleinen Gebiet, welches normalerweise als Gazastreifen bezeichnet wird, stranden. Dann stellen Sie sich vor, dass eine Gruppe von Hardlinern, orthodoxen Juden die Kontrolle über dieses Gebiet übernehmen und eine Widerstandsbewegung organisieren. Sie verweigern eine Anerkennung des neuen palästinensischen Staates mit dem Argument, dass seine Schaffung illegal und ihre Ausweisung aus Israel nicht rechtens gewesen sei. Stellen Sie sich vor, dass diese Gruppe Unterstützung von Sympathisanten rund um die Welt erhält und dass sie beginnen Waffen in ihr Territorium zu schmuggeln. Stellen Sie sich nun vor, dass sie eines Tages beginnen Raketen auf Palästinensische Kleinstädte und Dörfer zu schiessen und sich weigern, den Beschuss einzustellen, trotz wiederholter Gegenmassnahmen und zivilen Opfern.
Hier ist also die Frage: Würden die Vereinigten Staaten diese Juden im Gaza als “Terroristen” bezeichnen und Palästinenser dazu ermuntern erdrückende Militärmacht gegen diese zu verwenden?
Und hier kommt noch eine zweite Frage: Hätten die Vereingten Staaten so eine Situation überhaupt erst entstehen und dann andauern lassen?
Nun zuerst einmal bitte tief durchatmen bevor alle in die Tasten hauen!
Es handelt sich um ein Gedankenexperiment (nicht mal mein eigenes) und nicht um eine historische Analogie oder gar den Versuch einer Schuldzuweisung. Es würde mich freuen, wenn wir es als solches behandeln könnten. Es geht darum, Ballast von festgefahrenen Denkmustern abzuwerfen, nicht um Rechtsprechung.
Setzt man sich damit auseinander, zwingt es einem zu versuchen, den Konflikt mit vertauschten Rollen zu sehen. Trotzdem sind die Rollen nicht einfach ausgetauscht, da das Experiment mit dem Sechstagekrieg einsetzt und insofern den Unabhängigkeitskrieg der zur Staatsgründung Israels führte nicht einfach spiegelt (d.h. der Staat Israel existiert im Gegensatz zum Staat ‘Palästina’ schon). Ein weiterer Vorteil ist, dass alles, was dazu gesagt werden kann, eigentlich hypothetisch bleiben muss, da an zu vielen Variablen gedreht werden muss, als das irgendjemand wirklich voraussagen kann, was geschehen wäre. Wir befinden uns also mehr oder weniger auf neutralem Boden.
Hier also mein Versuch Walts Fragen zu beantworten: Das schwierigste finde ich, dass der Wendepunkt in diesem Gedankenexperiment just der Moment ist, in dem die USA Israel im heutigen Ausmass zu unterstützen begannen. Einerseits war da der kalte Krieg und in den USA wurden viele arabischen Staaten mehr und mehr in der Nähe der Kommunisten wahrgenommen.1 Gleichzeitig nahm die Macht der ehemaligen Kolonialmächte nach dem zweiten Weltkrieg stark ab in der Region. Noch in der Suezkrise wurden nicht nur die beiden Allierten Frankreich und Grossbritannien, sondern auch Israel von den USA vor den Kopf gestossen und in die Schranken gewiesen. Nicht zuletzt der schnelle und deutliche Sieg Israels im Sechstagekrieg signalisierte den USA die Bedeutung dieses Verbündeten. Folgt man also Walts Experiment, dann könnte es sein, dass sich die USA gar nie in diesem Ausmass Israel zugewandt hätten.
Ich würde also seine zweite Frage tendenziell und wohl entgegen der Antwort die Walts geben würde, mit ‘Ja’ beantworten. Ich glaube, dass die Amerikaner, das zugelassen hätten, vielleicht unter Protest, aber ohne etwas zu unternehmen.
Die erste Frage hingegen finde ich noch schwieriger. ‘Terrorist’ ist in meinen Augen und wie ich in früheren Posts schon dargelegt habe, ein stark wertender Begriff. Ich habe den Eindruck, dass der Ausdruck schneller mit Islam oder mit Arabern in Verbindung gebracht wird und in anderem Zusammenhang weniger benutzt wird (weniger heisst nicht nie sondern wohl nur vorsichtiger). Die Verinnerlichung einer gewissen Mythenbildung was den Zweiten Weltkrieg betrifft zusammen mit dem Erstarken der Christlichen Rechten hat zu grosser politischer Unterstützung für die Anliegen des Israelischen Staates in den USA geführt. Wenn dies alles trotz des anderen Ausganges des Sechstagekrieges stattgefunden hätte, vermute ich, würde ich diese erste Frage tendenziell mit “Nein” beantworten. Ich kann mir vorstellen, dass die USA zwar ein Einstellen des Raketenbeschusses fordern würden, aber nicht soweit gingen, diese als ‘Terrorismus’ zu bezeichnen und ich glaube nicht, dass sie massive Militärschläge erlauben würden.
Was nützt mir nun diese Einsicht? Die Geschichte ist doch nunmal wie sie ist. Es ist aber interessant, so finde ich, Geschichte anders zu denken zu versuchen. Solche Gedankenexperimente können einem auf eigene Einseitigkeiten und vorgefasste Meinungen hinweisen, aber natürlich nur, wenn man es ehrlich durchzudenken versucht. Ansonsten lernt man nur, was man sowieso schon weiss.
Wie sehen Eure Spekulationen dazu aus?
1Interessanterweise waren am Anfang der Existenz des Staates Israel die Rollen zwischen der Sowjetunion und den USA gerade umgekehrt verteilt.
P.S.: Ich werde erst am Sonntag auf allfällige Kommentare antworten können. Seid also nett zueinander!
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