Bei Arte-Fakten schrieb Jörg Friedrich vor ein paar Tagen einen längeren Eintrag als Reaktion auf eine von mir beantwortete Forschungsfrage. Ich wollte eigentlich schon länger mich in die Diskussion einmischen, da der Beitrag in meinen Augen viel zu wenig den politikwissenschaftlichen Standpunkt reflektiert. Dies soll hier nun nachgeholt werden.
Jörg Friedrich berührt zwar mehrere Konzepte, führt diese aber nicht aus und vermischt sie in meinen Augen in unzulässiger Weise. Ich glaube daher auch, dass die Schlussfolgerungen falsch sind. In Anbetracht des Ausgangsposts, den ich hier zu kritisieren beabsichtige, muss ich aber auf drei in meinen Augen analytisch sehr unterschiedliche Fragen eingehen: Die Zukunft des Nationalstaates, Identitätspolitik und das vermeintliche Demokratiedefizit der Europäischen Union (EU).
Die Grundthese
Die Grundthese von Jörg Friedrich, der vermeintliche Zerfall von Nationalstaaten, bleibt in meinen Augen unklar. Es fehlt an einer Definition und er scheint zwei unterschiedliche Phänomene zu vermischen: Den Zerfall von Staatengebilden in kleinere und häufig homogenere Einheiten einerseits und das Aufgehen von existierenden Staaten in grössere Gebilde (hier vor allem die EU) anderseits. In der Regel wird nur erstes als “Zerfall” bezeichnet. Das andere Thema wird normalerweise unter dem Blickwinkel von Souveränitätsverlust respektive -abgabe analysiert. Die Vermischung der beiden Themen ist ebenfalls eher unorthodox.
Was nun die eigentliche Zerfallsthese betrifft fällt auf, dass die Staaten, die tatsächlich auseinanderbrachen vor allem entweder eine koloniale Geschichte haben oder aber nach dem Ende des kalten Krieges Staaten aus dem ehemaligen Ostblock sind. Ich vermute, dass Jörg Friedrich vor allem an diese zweite Gruppe dachte. Diese Staaten stellen aber einen Ausnahmefall, da vermutlich das Wegfallen der Sowjetunion und das Ende der Ost-West Konfrontation ein Faktor von viel grösserer Bedeutung ist für das Auseinanderbrechen als sprachliche oder kulturelle Differenzen. Der Zusammenbruch kristallisierte sich nur anhand von diesen Fragen.
Identität
Will man Nationalstaaten studieren und analysieren, stellt sich die Frage, was denn eigentlich dies “Nationale Identität” überhaupt ist. Jörg Friedrich betont vor allem die Bedeutung von Sprache, weitet zeitweise diese Definition auch aus. Ein Klärung des Konzeptes “Identität” ist aber zentral für diese Frage. Einigkeit herrscht vermutlich, dass diese etwas mit geteilter Kultur und Abgrenzung gegenüber des “Anderen” geschieht. Nur dies definitorisch festzulegen ist den sprichwörtlichen Pudding an die Wand zu nageln.
Identität ist immer auch weitgehend eine Konstruktion und ich vermute, dass Jörg Friedrich mit mir da einig geht. Dann muss man aber auch die Konsequenzen ziehen und akzeptieren, dass sich Identitäten auch (einfach) ändern können. Im Beitrag entsteht aber der Eindruck, sie seien fixiert und gegeben (z.B. ‘Sprache’, ‘lange gemeinsame Tradition’). Dazu kommt, dass wir alle nicht einfach eine Identität haben. Identiäten sind mehrschichtig und multipel. Wir bringen alle unsere eigene Mischung an Identitäten und diese sind abhängig von der Situation und der Umgebung von unterschiedlicher Bedeutung. Manchmal ist man Bayer, manchmal Deutscher, manchmal Banker, manchmal ökonomische Oberschicht, manchmal ist man Europäer, manchmal ein Mann oder Städter. Sprache ist nur ein Element und wird meines Erachtens von Jörg Friedrich stark überbewertet (aber auch da bleibt die genaue Bedeutung von Sprache unscharf).
Wenn wir aber nun darauf bestehen wollen, dass Identitäten nicht so fliessend sind und schwer zu ändern, dann müsste man um solche Aussagen zu machen, definieren wie der Unterschied gemessen wird: Warum sind Münchner und Hamburger sich kulturell näher als ein Bewohner von Brüssel und einer aus Namur und wo wird die Grenze gezogen (gilt das auch wenn man den Stadt-Land Gegensatz miteinbezieht)? Ich kenne auch keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die Heterogenität als bestimmenden Faktor gefunden hätten (vielleicht gibt es sie, aber sie reflektieren kaum den ‘Mainstream’).
Ebenfalls für problematisch halte ich die Tatsache, dass diese feste Kulturidee in gewissem Sinne erst die Unterschiede schafft und die Möglichkeiten zur Abgrenzung verstärkt. In Realität sind solche identitären Abgrenzungen häufig verschwommen und alles andere als schwarz und weiss: Meist sind Mehrsprachigkeit, Mischehen, gemischte Familien usw häufig. Eine sehr grosse Zahl von Menschen sind nicht eindeutig auf ‘einer Seite’. Dies war auch im ehemaligen Jugoslawien der Fall und ich habe auch schon darüber geschrieben.
Darum sehe ich auch keine Basis für die Voraussage, dass wir ein Zerfallen von Nationalstaaten (wie in Osteuropa und dem Balkan nach dem Mauerfall) beobachten werden. Die Abspaltungsbewegungen in Westeuropa existieren meist schon lange, viele sind heute weniger heftig und das ist hier von besonderer Bedeutung, sie waren bisher nicht erfolgreich. Die Vermutung liegt nahe, dass in demokratischen Staaten die Loyalität eines grossteils der Bevölkerung bei der Zentralregierung liegt oder zumindest nicht viel schwächer ist als die lokale Loyalität. Sonst hätte eine Abspaltung in vielen Fällen wohl möglich sein sollen. Es ist eben nicht eine schwarz-weiss Frage, sondern eine des Gleichgewichtes.
Legitimität, die Europäische Union und Dezentralisierung
Im zweiten Teil seines Blogeintrages wechselt Jörg Friedrich zu einem weiteren Thema, welches ich hier separat besprechen möchte: Die Europäische Union. Es gibt eine riesige Menge an Literatur zum vermeintlichen Demokratiedeifizit der EU. Diese sollte aber klar getrennt werden von populistischen Argumenten, die ähnliches kritisieren aber meist nur die Oberfläche von tatsächlichen oder mutmasslichen Problemen streifen.
Es gibt zwei unterschiedliche Argumente, die normalerweise vorgebracht werden in diesem Zusammenhang und die wiederum getrennt werden müssen um die Frage analysieren zu können. Ein Ansatz ist die Frage ob es eine europäische Öffentlichkeit gibt. Dies wird meist als eine Frage nach einem europäischen Demos (griechisch Begriff für die Bürger der Stadtstaaten) formuliert. Der zweite Ansatz ist inwiefern die EU die Bürgerinnnen und Bürger vertritt (normalerweise als Demokratiedefizit behandelt).
Auf die Frage nach der Existenz eines europäischen Demos, entgegen dem was im Post von Jörg Friedrich suggeriert wird, gibt es keine klare Antwort. Es hängt stark davon ab welche Teilaspekte oder -bereiche man studiert. Es scheint mir auch, dass die Resultate in der Fachliteratur häufig stark von der persönlichen Einstellung der Autoren zum Nationalstaat mitgeprägt sind. Was in meinen Augen eine völlig unzulässige Verkürzung ist, ist davon auszugehen, dass es keine europäische Öffentlichkeit gebe nur weil es keine gemeinsame Sprache gibt. Erstens ist dies simplistisch weil man die Existenz einer Öffentlichkeit auf ein einziges Element beschränkt und zweitens weil es unzählige Beispiele gibt, wo ein Teil der Bevölkerung monolingual ist und dies nicht die gemeinsame Sprache ist (siehe auch meinen Kommentar dazu). Das Paradebeispiel dafür wäre die Schweiz, in der es keine “nationalen Talkshows” gibt und keine Debatten im Feuilleton. Was die gemeinsame ‘Kultur’ oder ‘Tradition’ betrifft, das wäre dann wieder der Pudding, den man sich durchaus zurechtlegen kann wenn man will. Das funktioniert übrigens auch in der Schweiz.
Das Gerede von EU-Bürokraten ist in meinen Augen politisches Klischee und entstammen mehr einem populistischen Zeigefingerspiel als einer fundierten Analyse. Mit dem Demokratiedefizit haben sie (bis auf dass ein Zusammenhang wahrgenommen wird) faktisch wenig zu tun. Generell haben die Bürgerinnen und Bürger eine Tendenz die Grösse der EU Bürokratie zu über- und die nationale zu unterschätzen.
Schlussendlich ist es eine Frage der Legitimität, wie ‘demokratisch’ die EU ist. Ein Begriff, der in Jörg Friedrichs Post leider gar nicht vorkommt. In der Literatur wird fast überall zwischen Input (Prozesse wie z.B. Wahlen) und Output (wie effektiv kann man Probleme lösen) -Legitimität unterschieden. Gerade letzteres wird im öffentliche Diskurs häufig vergessen, ist aber eine Stärke der EU. Einer der Hauptgründe für mangelnde EU Demokratie auf der Input Seite (und teilweise auch für den Output) ist eben, dass sich die Nationalstaaten an ihre Privilegien und Ihre Souveränität klammern. Sie sind so häufig mehr Ursache als Lösung des Problems.
Ein weiteres Stichwort, das leider auch fehlte war ‘Dezentralisierung’. Dies ist zweifelsohne eine Organisationsform, die heterogene staatenähnliche Gebilde zusammenhalten kann. Man kann sich ganz unterschiedliche Niveaus von Dezentralisierung vorstellen. Es ist dann nicht einfach ein Entweder-Oder (Nationalstaat versus Supranationalstaat) sondern eine Frage der Abstufung (das habe ich auch in meiner Antwort auf die Forschungsfrage anzudeuten versucht). Die EU könnte gerade eine Möglichkeit sein, dass zum Beispiel Sprachgemeinschaften eine gewisse Autonomie haben können ohne den Nationalstaat zu demontieren (in diese Richtung ging auch die Idee des Europa der Regionen).
Schlussfogerungen
In Anbetracht all dieser nicht-diskutierten Aspekte ergeben solche Sätze nicht mehr sehr viel Sinn:
Große politische Gebilde können nicht demokratisch regiert werden, wir merken es in Europa tagtäglich. Deshalb sollte jedem, dem die Demokratie am Herzen liegt, auch der Nationalstaat nicht gleichgültig sein.
Nein, man merkt es nicht tagtäglich. Nein, auch grosse Länder können demokratisch regiert werden und es gibt Beispiele dafür (z.B. Indien, USA). Und Nein, die Demokratie braucht den Nationalstaat nicht.
Den Vorwurf des Demokratiemangels in dieser Weise mit der Nationalstaaten Frage und der Europäischen Union zu vermischen halte ich für unglücklich. Mir ist auch in meinem Fach kaum Literatur bekannt, die dies auf diese Art tun würde. Es scheint mir ein gutes Beispiel zu sein wo es sich lohnt, den politischen Diskurs von der akademischen Literatur zu unterscheiden und das Problem analytisch statt aus dem Bauch heraus anzugehen.
Kommentare (74)