Yoav Sapir von un/zugehörig von Chronologs hat wieder einmal zugeschlagen. Ganz in der Tradition der Idee eines Kampfes der Kulturen verbreitet er Thesen, die zwar in einem gewissen Meinungsspektrum gute Resonanz finden, sich aber nach ein wenig an der Oberfläche kratzen als kaum haltbar herausstellen.

Kurz zusammengefasst freut er sich darüber, dass über sogenanntes racial profiling (Fahndung mit Hilfe vermeintlich ethnischer Kriterien) diskutiert wird und betrachtet solche Massnahmen als Notwendigkeit um ‘westliche Werte’ zu schützen. Wie andere Verfechter solcher Massnahmen wirft er sich den Mantel des Kämpfers gegen die politische Korrektheit um und präsentiert sich als wahrer Realist. Wie oft bei selbsternannten Realisten handelt es sich nur um eine Etikettierung, die über den tatsächlichen Mangel an Verankerung in der Realität hinwegtäuschen soll. Nur weil eine Aussage ‘unbequem’ ist, ist deshalb weder zwangsläufig wahr noch korrekt (oft ist sie nicht einmal “unbequem” für eine Mehrheit).

Races_humaines.jpg

Beginnen wir mit den Prämissen des Arguments, denn schon diese sind falsch. Erstens geht er davon aus, dass potentielle Terroristen an ethnischen Merkmalen erkennbar sind. Das stimmt aber häufig nicht. Weder der Anschlag von Weihnachten den Yoav als Ausgangspunkt wählt noch hausgemachter Terrorismus können so gestoppt werden, geht es doch darum, ein sehr seltenes und extremes Ereignis zu verhindern. Weder McVeigh, Reid, Rudolph oder der Unabomber hätten so verhindert werden können. Zweitens geht er davon aus, dass Ethnie phänotypisch klar abgrenzbar ist. Die Zeit der Rassen-Tableaus in Enzyklopädien ist aber zum Glück vorbei und zwar nicht zuletzt deshalb, weil eine solche Einteilung einfach nicht haltbar war. Schon gar nicht sollte sie den Vorurteilen der ausführenden Beamten überlassen werden. Selbst wenn solche Merkmale klar erkennbar wären, denkt Yoav wohl mehr an Religion und diese ist noch weniger am Aussehen festzumachen ist. Ein offensichtlich untaugliches Konzept. Drittens funktioniert die Logik nur, wenn die Terroristen sich nicht auf diese Taktik einstellen. Man kann aber davon ausgehen, dass sie dies miteinbeziehen werden (sie brauchen schliesslich nicht ganze Kompanien von Personen die nicht ins Raster passen). Was für ein Geschenk an alle die Böses im Schilde führen, wenn sie wissen wer kontrolliert wird.

Damit kommen wir zu inneren Logik des Arguments. Wie ich auch unter dem Beitrag bei Yoav kommentierte kann man mit einem solchen Argument von Kriegsverbrechen über Folter bis zu Rassengesetze und Apartheid alles rechtfertigen. Wenn so westliche Werte geschützt werden sollen können wir auch gleich auf diese verzichten (zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass er Folter tatsächlich befürwortet).

Dies ist eine Wissenschafts-Plattform und darum habe ich mich kurz auf die Suche nach Artikeln zum Thema gemacht. William H. Press rechnet uns zum Beispiel vor, warum diskriminerende Fahndung rein mathematisch nicht sinnvoll ist (Press, W.H., Strong profiling is not mathematically optimal for discovering rare malfeasors, pnas open access Vorabpublikation, 2009). Dann gibt es auch noch ein Buch von Professor David A. Harris mit einem Kapitel warum Racial Profiling nicht funktioniert (Harris, D.A., Profiles in Injustice: Why Racial Profiling Cannot Work, New Press 2003). Dieses wird viel positiv zitiert, ich kann mich leider selber nicht genauer zum Inhalt äussern, da ich es nicht besitze. Man findet einige Artikel zum Thema vor allem was Afro-Amerikaner in den USA betrifft. Fast alle Autoren sehen die Methode als nicht effektiv. Die Kategorisierung ist zu subjektiv (Antonovics, K., Knight B.G., A New Look at Racial Profiling: Evidence from the Boston Police Department, Review of Economics and Statistics, 2009, Vol. 91, No. 1, Pages 163-177) und langfristig schlecht für die Ermittlungen (Ramirez, D.A., Hoopes, J., Quinlan, T.L., Defining Racial Profiling in a Post-September 11 World, American Criminal Law Review, Vol 40, 2003, p. 1195).

Dies bringt uns zu den Konsequenzen einer solchen Fahndung. Dazu gehört die Schaffung von zwei Klassen von Bürgerinnen und Bürger und damit auch eine Entfremdung von der eigenen Staatsgewalt. Bin Laden freut sich bestimmt über dieses Geschenk der Verteidiger westlicher Werte. Warum soll ich durch meine Geburt (oder wegen meiner Religion wenn ich eine hätte) weniger Schutz vor dem Recht geniessen, obwohl ich mich gleich oder vielleicht sogar mehr für meine Gesellschaft einsetze? Ich frage mich auch, ob Yoav sich bewusst ist, dass er vermutlich ebenfalls in dieses Raster fallen könnte. Der Kampf der Kulturen findet so plötzlich tatsächlich statt. Wer verdächtiges Verhalten fahnden möchte, soll nach diesem Suchen und nicht als öffentliche Beruhigungsmassnahme gegen Minderheiten diskriminieren, die ebenso unschuldig sind, wie die Menschen die man damit zu schützen vorgibt. Der Rechtstaat kann nicht zum eigenen Schutz ausgehöhlt werden, sonst gibt man denen Recht, die gegen ihn antreten.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich an dieser Art der Argumentation von Yoav störe. Er hat auf diesen Seiten schon andernorts die These der Überlegenheit der ‘Judeo-Christlichen’ Tradition verteidigt. Dies mit fast schon pseudo-wissenschaftlichen Argumenten und als sich der von ihm zum “Testfall” deklarierte Libanon als Rechenfehler erwies wurde auf die de facto Falsifikation einfach nicht mehr eingegangen und er verschwand. Es ist nunmal einfacher solche Thesen aufzustellen, als sie auch zu testen und gar zu belegen. Wenn man aber den Anspruch erhebt wissenschaftlich zu argumentieren, dann soll man auch das Rückgrat haben, sich von Behauptungen zu distanzieren, die sich als nicht haltbar erweisen.

Kommentare (22)

  1. #1 rolak
    Januar 7, 2010

    Bitter. Was mir überdeutlich vor Augen führte, wie schrecklich degeneriert die hierzulandige Denkweise damals schon war [und es hat sich auch leider seitdem nichts Positives getan], war die Folterdiskussion im =»Metzler-Fall. Das schärft meine Aufmerksamkeit nachhaltig, wenn Aussagen á la “Menschenrechte, da <max pejorativ> ich drauf” gewagt werden.

  2. #2 Ulrich
    Januar 7, 2010

    Wer die Büchse der Pandora öffnet, kann sie nur mehr schwer schließen.
    Jedem vernünftig denkenden Menschen sollte das einleuchten.

  3. #3 Jörg
    Januar 7, 2010

    Wer Folter befürwortet ist sowieso vom Wagen der Menschlichkeit abgesprungen, da wundert es nicht wenn auch der Rest in Pseudowissenschaft endet 🙁

  4. #4 mrbaracuda
    Januar 7, 2010

    Irgendwie scheine ich ein Problem damit zu haben, die für andere so offensichtlichen “slippery slopes” zu erkennen. Kannst du mir dabei helfen, wie man von dem Thema zu “Kriegsverbrechen über Folter bis zu Rassengesetze und Apartheid alles rechtfertigen” kommt?

  5. #5 ali
    Januar 7, 2010

    @mrbaracuda

    Ich bin grundsätzlich vorsichtig mit Slippery Slope Argumenten. Obwohl ich im vorliegende Fall ein Potential für ein solches sehe habe ich mit den von dir zitierten Beispiele kein solches antönen wollen. Es ging mir um die innere Logik des Arguments. Du erkennst also die Slippery Slope nicht, weil sie nicht da ist, zumindest nicht dorthin.

    Was ich sagen wollte ist folgendes: Man kann genau so gut behaupten man müsse die Rechte von Schwarzen einschränken (z.B. wegen höherer Kriminalität in den USA), Folter erlauben (z.B. das tickende Bombe Argument) oder im Kriegsfall Zivilisten töten mit der Begründung, nur so kann man [beliebige Werte einsetzen] retten, nur so kann man den Kampf für [beliebiges übergeordnetes Ziel] gewinnen auch wenn es eigentlich genau diesen Werten widerspricht. Ein Opfer welches den Zweck heiligt. Es ist in meinen Augen eine Hülse die mit allem gefüllt werden kann, das man rechtfertigen möchte.

  6. #6 mrbaracuda
    Januar 7, 2010

    Macht Sinn. Vielleicht bin ich einfach zu müde. Ich zumindest beziehe mich auf das Flughafenthema bzw. den Flughafen als Schauplatz. Da war dann auch schon Schluss bei mir. Und ich dachte eher daran, als etwaige Vorkehrungen auf andere Gebiete auszuweiten, wie du es andeutest.

    Die Situation in Israel bzw. an dortigen Flughäfen oder anderen Kontrollpunkten auf den Rest der Welt zu übertragen ist meines Erachtens nach auch nicht unbedingt das sinnvollste Vorgehen.

    Welche konkreten Rechte würden eigentlich eingeschränkt sein, wenn es z.B. so wie im zweiten Artikel beschrieben ablaufen würde? Was ich vorallem an dem von Sapir eingebrachten zweiten Welt-Artikel sehe ist ein Fokus auf das Verhalten bzw. widersprüchliche Angaben und dann erst etwaige Hintergründe, die dann zusätzliche Anhaltspunkte geben könnten und eine tiefergehende Überprüfung auslöst.

  7. #7 Shin
    Januar 9, 2010

    Wer Folter befürwortet ist sowieso vom Wagen der Menschlichkeit abgesprungen, da wundert es nicht wenn auch der Rest in Pseudowissenschaft endet

    Ok, das ist jetzt OT, entschuldigung, doch dazu musste ich einfach etwas sagen. Ich lehne eine rechtliche Akzeptanz von Folter auch ab, doch andererseits muss man sich fragen, ob eine prinzipielle Ablehnung (ebenso wie jede andere absolute Ansicht) für jeden Extremfall tauglich ist. Ein bekanntes Gedankenexperiment ist die Situation, in der ein Wahnsinniger den Countdown einer Weltvernichtungsmaschine gestartet hat und nur er selbst ihn wieder stoppen kann. Wenn Folter hier das einzige Mittel wäre, ihn dazu bewegen, wäre sie dann gerechtfertigt? Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, warum dann nicht auch in bestimmten anderen, weniger extremen Situationen? Wo zieht man den Trennstrich? Kann man das? Ich finde es wichtig, dass solche Diskussionen geführt werden, wenn vielleicht auch nur dazu sich zu vergegenwärtigen, warum man Folter eigentlich ablehnt und mit welcher Begründung.

  8. #8 Jörg
    Januar 9, 2010

    Ein bekanntes Gedankenexperiment ist die Situation, in der ein Wahnsinniger den Countdown einer Weltvernichtungsmaschine gestartet hat und nur er selbst ihn wieder stoppen kann. Wenn Folter hier das einzige Mittel wäre, ihn dazu bewegen, wäre sie dann gerechtfertigt?

    Ach was ist das denn für eine James-Bond-Situation? Ein einzelner will alle Menschen umbringen (also ist er bereit zu sterben), ließe sich aber durch Folter umstimmen? Mit solchen wilden Szenarien kann man vermutlich gegen alles und jeden Stimmung machen.

  9. #9 Shin
    Januar 9, 2010

    Mit solchen wilden Szenarien kann man vermutlich gegen alles und jeden Stimmung machen.

    Es geht nicht um Stimmung, es geht um theoretische Überlegungen. Gedankenexperimente. Eine Prüfung es eigenen Standpunktes, der Konsistenz der eigenen Ansichten. Was wäre wenn? Man kann über emotional und politisch aufgeladene Themen auch sachlich diskutieren, ich halte das sogar für sehr wichtig. Wie gesagt, ich bin ebenfalls der Meinung, dass Folter weiterhin verboten bleiben sollte und erst recht keinesfalls in staatlichem Auftrag erfolgen darf. Tabuisierung oder Verabsolutierung bestimmter Denkweisen halte ich aber für falsch, egal worum es geht.
    Zu dem Szenario: Natürlich ist es realitätsfremd, es ist ein Gedankenexperiment. Es ist aber nicht völlig undenkbar oder widersprüchlich. Jemand kann durchaus keine Angst vor dem Tod haben (weil man an ein Leben danach glaubt z.B.), wohl aber Angst vor Schmerzen. Wenn man also sagt “Folter ist niemals gerechtfertigt”, dann muss man auch sagen, dass Folter in diesem Fall nicht gerechtfertigt wäre, und erklären warum.

  10. #10 Martin
    Januar 9, 2010

    Bei diesem Thema sind die Gegner mindestens ebenso der mangelnden Verankerung in der Realität schuldig wie die Befürworter. Im Prinzip gibt es zwei Argumentationslinien, die man auseinander halten sollte: die moralische (Rassismus) und die pragmatische (mangelnde Wirksamkeit).

    Mit dem moralischen Argument kann ich durchaus sympathisieren. Häufigere Befragung am Flughafen steht aber absolut nicht in der selben Kategorie wie “Kriegsverbrechen über Folter bis zu Rassengesetze und Apartheid”, insofern sind da auch nicht die gleichen Maßstäbe anzulegen. Trotzdem auf jeden Fall bedenkenswert.

    Zu den Argumenten bez. Wirksamkeit ein paar Anmerkungen:

    Erstens geht er davon aus, dass potentielle Terroristen an ethnischen Merkmalen erkennbar sind. Das stimmt aber häufig nicht.

    Wie häufig? Eine nicht-perfekte Übereinstimmung macht Racial Profiling noch nicht unwirksam. Eine überschlagsmäßige Einordnung der Attentäter der letzten 10 Jahre nach Ethnie zeigt definitiv keine Gleichverteilung. Eine kurze Umrechnung mit dem Satz von Bayes ergibt relative Häufigkeit von Terroristen nach Ethnie. Alle diese Werte sind sehr nahe an null, aber deutlich unterschiedlich. Das zeigt zunächst nur eine Korrelation – aber wenn keine guten Gründe vorliegen, dass sich diese Verteilung in Zukunft drastisch ändern wird, ist es sinnvoll, diese Werte als Priors (A priori-Wahrscheinlichkeiten) zu verwenden für die Wahrscheinlichkeit, dass ein zufälliger Flugzeugpassagier ein Terrorist ist (wenn keine weiteren Informationen vorliegen). Dazu weiter unten mehr.

    Zweitens geht er davon aus, dass Ethnie phänotypisch klar abgrenzbar ist.

    So what? 100%ige Treffsicherheit ist weder theoretisch noch praktisch nötig, um Racial Profiling wirksam zu machen. Es muss zunächst mal nur besser als rein zufällige Zuordnung sein, das sollte selbst beim kurzsichtigsten Beamten erfüllt sein.

    Drittens funktioniert die Logik nur, wenn die Terroristen sich nicht auf diese Taktik einstellen.

    Stimmt natürlich. Das dürfte praktisch trotzdem nicht so einfach sein, sonst hätte wir wohl schon mehr westliche Al-Kaida-Attentäter gesehen.

    William H. Press rechnet uns zum Beispiel vor, warum diskriminerende Fahndung rein mathematisch nicht sinnvoll ist

    Womit wir wieder bei den Priors wären.

    Press rechnet vor, dass rein zufällige Kontrolle exakt gleich effizient wie strong profiling (Kontrollwahrscheinlichkeit proportional zu Priors) ist.
    Optimal ist dagegen root-square biased sampling, also Kontrollwahrscheinlichkeit proportional zur Quadratwurzel der Priors. Das macht die Kontrollen ausgeglichener, aber Personen mit größerem Prior werden trotzdem häufiger kontrolliert.
    Der Artikel sagt also mitnichten, dass Diskriminierung nicht sinnvoll ist, bloß starke Diskriminierung ist suboptimal.

    Wie gesagt, ich kann dem moralischen Argument gegen Racial Profiling durchaus viel abgewinnen, die Wirksamkeit zu widerlegen ist allerdings nicht ganz so trivial.

  11. #11 hape
    Januar 9, 2010

    @Shin

    Das Problem ist, dass die von Ihnen geschilderte Situation eben so einzigartig und wohl auch unwahrscheinlich ist, und man die Rechtssprechung nicht nur an extremen Spezialfällen orientieren kann. Das Beispiel impliziert ja z.B. auch, dass ein solcher krasser Fall immer als solcher zu identifizieren sei, und man nie auch “aus Versehen” jemanden foltert, z.b. weil die Bombe nur ein sehr guter Bluff war (ist doch egal wie unrealistisch das ist, berücksichtigen muss man das nach Logik dieser Art von Beispielen schließlich auch). Man kann also kein Gesetz formulieren, dass immer nur im korrekten, absolut extremen Fall greift und per Definition schon immer fehlerfrei angewandt wird. Daher muss man berücksichtigen, dass man mit so einem Gesetz eben einen gewissen Kollateralschaden akzeptiert, der es einfach nicht wert sein kann und darf.

    P.S.: ich bein kein Jurist, aber ich glaube kaum, dass ein Gesetzestext so aussehen könnte: “Angenommen, ein Geheimagent ist dem Superschurken auf die Schliche gekommen, dieser hat den Agenten festgenommen und ihm im typischen Größenwahn seinen genauen Plan mitgeteilt, wie er die Menschheit vernichten wird. Der Agent ist aber freigekommen und hat nun eine Minute Zeit, bevor der Timer die Bombe auslöst. In diesem, aber nur in diesem Falle, und nur wenn der Superschurke seinen Plan glaubhaft geschildert hat und es kein Bluff war, darf der Geheimagent ihn ein wenig an den Füßen über einen Abgrund halten, bis er den Code für den Timer herausrückt” 😉

  12. #12 Shin
    Januar 9, 2010

    @hape
    Ich stimme zu, und es geht mir auch nicht darum Folter allgemein zu rechtfertigen. Wie gesagt, Legalisierung von Folter, egal in welcher Form, lehne ich strikt ab. Was mich stört, ist die Absolutheit, mit der Folter (nicht deren Legalisierung) teils verurteilt wird, so als ob es sich hier um ein absolutes Tabu handelte. “Menschen dürfen nicht gefoltert werden, weil dies einfach falsch ist”. Dieses Argument ist meiner Ansicht nach wie jede absolute, dogmatische Aussage und jedes Tabu mindestens fragwürdig, und nicht mehr oder weniger versuche ich hier darzulegen.
    Jede ethische Entscheidung ist ein Abwiegen verschiedener möglicher Konsequenzen gegeneinander, und in manchen, sehr seltenen Fällen ist Folter meines Erachtens die vertretbarere. ABER: Auch wenn ich das Verhalten von Polizeichef Daschner im Fall Metzler für nachvollziehbar, wenn nicht gar richtig halte, und auch wenn ich mir vorstellen kann, in der gleichen Situation ähnlich gehandelt zu haben, bin ich dennoch ebenfalls der Meinung, dass er aufgrund seines Handelns angeklagt und verurteilt werden sollte. Gesetze dürfen keine Rücksicht auf derartige Einzelfälle nehmen, und selbstverständlich erst recht nicht auf exotische Szenarien aus Gedankenexperimenten, sonst wird Folter eben nicht zum Einzel- sondern langsam zum Regelfall.

  13. #13 ali
    Januar 9, 2010

    @Martin
    Zum Thema: “Kriegsverbrechen über Folter bis zu Rassengesetze und Apartheid” möchte ich nur kurz festhalten: Es ging mir um die Inhaltslosigkeit des Arguments, nicht darum zu sagen, dass Racial Profiling zu Kriegsverbrechen führt. Ich habe das weiter oben auch schon geschrieben.

    (danke für die Gedankenanstösse aber der Rest muss bis morgen warten)

    @Shin
    Ich bin auch der Meinung, dass solche Gedankenexperimente helfen können eigene Ansichten kritisch zu hinterfragen. In deinem Beispiel kreiert man aber eine so extreme spezifische Situation und ich weiss nicht wie hilfreich dies für die konkrete Frage noch ist. Man kann sich fragen was überhaupt noch gilt, wenn man mit einer Handlung über das Überleben der gesamten Menscheit entscheiden könnte. Geht es hier überhaupt noch um allgemeine Regeln?

  14. #14 S.S.T.
    Januar 10, 2010

    @ali
    M.E. hatte @shin schon bei seinem ersten Post, dem ‘wahnwitzigen’ Gedankenexperiment, den Fall Daschner im Sinn. Also einen sehr realen Fall, bei dem es schwer fällt, eine moralisch zu rechtfertigende Haltung einzunehmen, wie es @shin nach meiner Meinung gut dargestellt hat. (Dass es hier ‘nur’ um die Androhung von Folter ging, ist sicherlich ehr nebensächlich, da man bereits die Androhung als Folter bezeichnen kann. Über ein richtig oder falsch dieser Ansicht kann man vermutlich lange streiten, ohne dass es einen wirklich weiterbringt.)

    Nun ja, es bleibt eben das moralische Dilemma: Man hat einen nicht-kooperativen Täter und ein Opfer in pot. Lebensgefahr, was soll man tun? Nach meiner Meinung hat sich Daschner in gewisser Weise mit seiner Folterandrohung einen Finger abgeschlagen, denn dass er mit dieser Drohung mit einem blauen Auge davon kommt, kann er nicht ernsthaft gedacht haben. Vielleicht hat er tatsächlich wider besseren Wissens geglaubt, dass er nicht verurteilt wird, aber dass damit jegliche weitere Karriere zum Teufel ist, muss ihm klar gewesen sein.

    An einer einzelnen Person geht die Welt nicht unter, stimmt. @shin hat m.E. den Fall in seinem Experiment nur extrapoliert. Aber wie entscheidet man wirklich in einem konkreten Fall? Zu was und zu welchen pers. Nachteilen entscheidet man sich, wenn man glaubt, dass die Entscheidung relevant ist?

  15. #15 Shin
    Januar 10, 2010

    @ali
    Es ging mir darum zu veranschaulichen, dass Aussagen wie “Folter kann niemals gerechtfertigt sein” unsinnig sind. Das Beispiel des überzogenen Extremfalls diente lediglich zur Veranschaulichung des Widersinns einer solchen, absoluten Haltung. Nochmal in einem Satz zusammengefasst: Meines Erachtens gehört Folter weiterhin verboten und aufs Schärfste verfolgt ( –> allgemeine Regel), dennoch gibt es wenige Ausnahmesituationen, in denen sie ethisch gerechtfertigt sein kann, um größeres Unheil abzuwenden. Diese sind jedoch so selten, dass der Schaden bzw. die Gefahren, die von einer gesetzlichen Regelung für solche Fälle ausgehen würden, deren Vorteile überwiegen.

  16. #16 rolak
    Januar 10, 2010

    Gegen die bewußte Entscheidung Einzelner, gegen die geltende Gesetzgebung zu verstoßen um ein diesen Verstoß ihrer Meinung nach ‘ausgleichendes’ Ziel zu erreichen ist natürlich nichts einzuwenden. Fällt imho unter zivilen Ungehorsam – allerdings auch mit den entsprechenden Konsequenzen: Zugeben und sich der Jurisprudenz übergeben, wenn man das Staatsgebilde, in dem man lebt, als generell sinnvoll anerkennt.
    Eine allgemeine Aufweichung á la dem in Yoavs Texten unübersehbaren ‘was evtl nützt ist immer erlaubt’, also de facto kurz vor ‘was beliebt ist auch erlaubt’, ist dagegen auf keinen Fall akzeptabel, und in diesem speziellen Fall zum Glück zumindest hierzulande auch wegen der schon lange erfolgten Ratifizierung der =»{UN|EU}-Antifolterkonvention nicht [so einfach] machbar.

  17. #17 ali
    Januar 10, 2010

    @S.S.T. @Shin

    Das Problem mit diesem Gedankenexperiment ist wie schon gesagt wurde, wie viele Dinge angenommen werden und wie extrem die Situation ist. Ich glaube wenn ich die Aussage machen würde (ich habe sie meines Wissens in diesem Kontext nicht gemacht) dann meine ich dies in einer Diskussion, die über eine so konkrete Massnahme wie Racial Profiling geht, wohl als eine Annäherung. Eine Annäherung wie wenn ich sage Evolution ist wahr oder Einhörner gibt es nicht.

    Dazu kommt, dass für mich Folter tatsächlich undenkbar ist. Ich glaube nicht, dass ich fähig wäre, einem Menschen absichtlich solche Schmerzen zuzufügen. Auch nicht in einer solchen Extremsituation (aber was weiss ich, wie ich da reagieren würde). Dies ist zugegebenermassen nicht rational und hat wenig mit der prinzipiellen Frage zu tun, aber es ist wohl etwas von den wenigen Dingen die für mich tatsächlich einer absoluten Moralvorstellungen nahe kommen. Es erklärt sicherlich die Abscheu, die es in mir auslöst, wenn jemand Folter als ein konkretes (also nicht das Gedankenexperiment) legitimes Mittel sieht, welches bei Personen eingesetzt werden soll, deren Schuld nicht einmal bewiesen ist.

    Ich möchte rolaks Kommentar in diesem Sinne unterstützen.

    Noch eine Randbemerkung die wenig zur Sache hat, aber welche ich einen interessanten Nebenaspekt finde: Ich denke es gibt schon einen Unterschied zwischen Androhung von Folter und effektiver Folter. Wenn nur das erste in Ordnung wäre, wäre es wahrscheinlich völlig ineffektiv da keine glaubwürdige Drohung gemacht werden kann. Es erinnert mich stark an Fragen im Zusammenhang mit Nuklearwaffen bei denen die meisten Einsatzmöglichkeiten eigentlich gegen Kriegsrecht verstossen und die ganze Theorie sich eigentlich um deren Nichteinsatz dreht.

    @Martin

    Ich wollte näher auf deine interessanten Punkte eingehen, merkte aber dass das aufwändiger wird als ich dachte (und ich war gerade mit Yoav beschäftigt). Ich werde morgen einen eigenen Post dazu verfassen mit ein paar zusätzlichen Gedankenanstössen.

  18. #18 Karl Mistelberger
    Januar 10, 2010

    Weder McVeigh, Reid, Rudolph oder der Unabomber hätten so verhindert werden können. Zweitens geht er davon aus, dass Ethnie phänotypisch klar abgrenzbar ist.

    Dieser Hinweis mag zwar richtig sein, geht aber an der Realität vorbei. Wer sich an die Realität hält, der kann zwar nicht jeden Anschlag verhindern, aber dennoch ziemlich erfolgreich sein:

    Nur all zu oft wird dabei vor allem Arabern das Reisen nach Israel vergällt, denn sie werden ganz besonders penibel untersucht. „Wir betreiben kein Profiling und sind keine Rassisten“, wehrt sich Sela gegen einen häufigen Vorwurf. „Wir betreiben Verhaltensanalysen, um effizient zu sein. Natürlich ist nicht jeder Muslim ein Terrorist, aber die meisten Terroristen waren Islamisten. Deswegen untersuchen wir Muslime genauer, besonders, wenn uns geheimdienstliche Hinweise vorliegen.

    siehe https://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/die_spreu_vom_weizen_trennen/

  19. #19 Sven Türpe
    Januar 10, 2010

    Ein bekanntes Gedankenexperiment ist die Situation, in der ein Wahnsinniger den Countdown einer Weltvernichtungsmaschine gestartet hat und nur er selbst ihn wieder stoppen kann.

    Um mal ein wenig Realitätssinn in das Experiment zu bringen: Woher weiß ich als aufstrebender Weltretter mit Mut zu unerhörten Maßnahmen, dass die Schweinebacke keine Vorkehrungen getroffen hat, um die Weltvernichtungsmaschine im Folterfall auf jeden Fall weltvernichten zu lassen? Wovon mir der Wahnsinnige selbstverständlich nichts erzählt, denn das ist Teil seines Planes.

  20. #20 S.S.T.
    Januar 10, 2010

    Die Weltrettung wurde ja schon auf einen konkreten Einzelfall reduziert. Man bewegt sich sozusagen zwischen Eins und Unendlich. Die Frage, die mich bewegt ist, wann würde man die Grenzen der Zivilisation verlassen? Erinnert im umgekehrten Sinn ein wenig an die Diskussion Lot/Gott, wieviele Gerechte müssen in Soda und Gramola leben, damit die ‘gerechte Vernichtung’ nicht erfolgt.

    Desweiteren teile ich die Ansicht, dass Androhung und Ausführung nicht das Gleiche sind (wäre es in der Tat das Gleiche, hätte auch das Gericht mit Sicherheit härter entschieden). Ob im Sinne eines Schachspielers, ‘Die Drohung ist stärker als die Ausführung’, sei dahingestellt. In Bezug auf die Nuklearwaffen hat es m.E. geklappt, was aber daran liegt, das ein Gegener bei einer drohenden konventioneller Niederlage mit sehr hoher Wahrsch. Nuklearwaffen eingesetzt hätte. Für eine Glaubwürdigkeit bräuchte man entweder einen Präzedenzfall oder ausreichend handfeste (falsche) Gerüchte.

    Stimmt, ist alles ziemlich O.T., aber so ist es mitunter bei Diskussionen 😉

    @rolak, schön auf den Punkt gebracht.

  21. #21 Stefan W.
    Januar 17, 2010

    @Martin: “Eine überschlagsmäßige Einordnung der Attentäter der letzten 10 Jahre nach Ethnie zeigt definitiv keine Gleichverteilung.”

    Wie sieht denn diese Überschlagsrechnung aus? Um welchen Zeitraum, welche Orte geht es, welche Attentate? Ich finde diesbezüglich keine offensichtlich geeigneten Überschlagswerte.

    Was sind die Kriterien, und welche Überschlagswerte nehmen wir? Oder nehmen wir gefühlte Werte, die von selbst irgendwie ungleichverteilt sind?

  22. #22 ali
    Januar 18, 2010

    Nachtrag zur klaren Abgrenzbarkeite: Es ist doch ein interessantes Detail, dass der FBI Photoshopper für das Fahndungsbild von Bin Laden ausgerechnet einen Spanier (‘Nicht-Araber’ also) als Vorlage benutzt hat. Zwischen Saudi Arabien und Spanien liegen doch einige Kilometer und viele vermeintlich klar ‘abgrenzbare’ Ethnien.

    Ich werde mich dann wohl mit den ganzen Südeuropäern in die Spezial-Schlange stellen müssen.