Ein Gespenst geht um in Grossbritannien. Das Gespenst des Hung-Parliaments. Nur warum sich alle so davor fürchten ist nicht ganz klar.

Heute wird in Grossbritannien gewählt. Wie im Sport kennt man das Resultat zwar noch nicht, aber es wird auf jeden Fall etwas ‘aussergewöhnliches’ sein. Entweder erreicht Labour wieder erwartet die Mehrheit und der neue Premier wird auch der alte sein (womit niemand rechnet) oder die konservativen Tories feiern ein Comeback und David Cameron wird einer der jüngsten Premierminister seit dem 19. Jahrhundert. Es könnte auch durchaus sein, dass keine der drei zur Wahl stehenden Parteien die Mehrheit im Parlament erreicht. Dies Situation wird oft als Hung Parlament bezeichnet und scheint der Stoff zu sein, aus dem britische Alpträume gemacht sind. Es würde bedeuten, dass die Regierungspartei entweder eine Koalition eingehen muss oder auf die Unterstützung einer Minderheitenregierung angewiesen ist.

Das historisch langsam gewachsene britische Wahlsystem hat einige Eigenheiten. Es ist ein Mehrheitswahlsystem und zwar bei den nationalen Parlamentswahlen nach dem Prinzip First Past the Post (FPTP). Wer in seinem Wahlkreis mehr Stimmen macht als seine Gegner ist gewählt. Kein zweiter Wahlgang, keine Zweitstimmen, keine Proportionalität.

Dazu kommt, dass in der Art wie die Wahlkreise verteilt sind, dies Labour bevorzugt. Die Tories haben ihre Wählerinnen und Wähler sozusagen schlechter verteilt. Labour kann selbst mit einem kleineren Stimmenanteil noch mehr Sitze im Parlament kriegen. Es ist das gleiche Prinzip welches hier schon im Zusammenhang mit dem sogenannten Gerrymandering erwähnt wurde. Man kann das mit dem Sitzrechner-Tool der BBC auch gut ausprobieren.

Nun sagt die Theorie, dass der Vorzug eines solchen Mehrheitswahlsystems (oft auch archetypisch als Westminster Demokratie bezeichnet) sei, dass man in der Regel klare Mehrheiten im Parlament hat und sich die Parteienlandschaft nicht zersplittere. Dies sollte zu beschlussfähigen und starken Regierungen führen. Der Nachteil ist, dass die Sieger überproportional vertreten sind und viel Stimmen einfach ‘verloren’ gehen und viele Wählerinnen und Wähler nicht vertreten sind. Dies Vor- und Nachteile werden in einem Proporzwahlsystem ins Gegenteil gedreht.

Dies wird dann von den Parteien beliebig ins Feld geführt um die eigene Sicht auf das Wahlsystem zu rechtfertigen. Im Grunde sind aber diejenigen für eine proportionaler Vertretung, die vom System benachteiligt werden und diejenigen die davon profitieren sind dafür. Eine Situation dies sich längerfristig natürlich auch immer wieder ändert. Was man in dieser Wahl häufig gehört hat war nun, dass Grossbritannien an einem Scheideweg stehe und dass wegen der Finanzkrise schwierige Entscheidungen gefällt werden müssen und für solche brauche es eine starke Regierung. Das schlimmste was passieren könne wäre ein Hung Parliament und als Konsequenz davon eine schwache Regierung.

Ich vermute, dass die Angst vor der fehlenden Mehrheit mehr mit politischem Einpeitschen zu tun hat als mit einer realen Gefahr. In einem FPTP Mehrheitswahlsystem konzentrieren sich die Stimmen meistens auf ein paar wenige, oft sogar nur zwei Parteien (da sonst die Stimme verschwendet wäre). Nun haben sich aber in der allgemeinen Desillusion die Liberaldemokraten besser behauptet als erwartet. Vor der fehlenden Mehrheit zu warnen, ist also auch ein Mobilisierungsargument um die Wählenden davon abzuhalten, den unerwartet erstarkten dritten im Bunde zu wählen.

Nun gibt es aber durchaus den Standpunkt, dass sogenannte Konsensusdemokratien eigentlich effizienter sind im Gestalten ihrer Politik. Das heisst, dass für Grossbritannien eine Koalitionsregierung vielleicht gar wünschenswert wäre. So schreibt Arend Lijphart in seinem Standardwerk zu Demokratien (A. Lijphart, Patterns of Democracy, Ausgabe 1999):

[T]he consensus democracies do clearly outperform the majoritarian democracies with regard to the quality of democracy and democratic representatione as well as with regard to what I have called the kindness and gentleness of their public policy orientations. (…). [C]ontrary to the common wisdom, there is no trade-off at all, between governing effectiveness and high quality democracy. (Lijphart 1999:301-302)

Es muss jedoch angefügt werden, dass es in Grossbritannien an einer entsprechenden Kompromisskultur fehlen könnte. Ein Hung Parliament muss aber bei weitem nicht die Katastrophe sein, als die es dargestellt wird. Trotzdem wird wohl Morgen, sollte sich keine klare Mehrheit herausbilden, die Börse negativ reagieren (vorausgesetzt natürlich dies geht nicht im allgemeinen griechischen Kurssturzbach sowieso unter) und viele in den britischen Medien Panik verbreiten. Morgen wissen wir dann mehr.

Kommentare (5)

  1. #1 KommentarAbo
    Mai 6, 2010

  2. #2 klauszwingenberger
    Mai 6, 2010

    Ich verstehe sowieso nicht, wieso sich derzeit dort überhaupt jemand an die Macht drängt. Die zu verteilenden Grausamkeiten werden schrecklich sein. Vermutlich wird der Gewinner noch heilfroh sein, wenn er mindestens einen Teil des anderen Lagers mit ins Boot nehmen kann – ein hung parliament könnte sich wegen des Drucks zum breit aufgestellten Konsens noch als Segen erweisen.

  3. #3 adenosine
    Mai 8, 2010

    Angst vor dem politisch Möglichen ist immer berechtigt

  4. #4 Ronny
    Mai 11, 2010

    Ok, ist eingetroffen, und jetzt ? 🙂

  5. #5 ali
    Mai 11, 2010

    @Ronny

    Abwarten und Tee trinken?