[Die SVP] fordert die Abschaffung der überflüssigen Gleichstellungsbüros und sonstiger Ämter, die das Privatleben staatlich reglementieren wollen [Parteiprogramm SVP, Seite 121]
Die Ennhdha hat neben einem knappen allgemeinen Artikel dem Thema Frau ein ganzes Kapitel gewidmet (Programm Seite 23) wo sie ökonomische Integration, Gleichberechtigung und speziellen Schutz fordert. Man kann sich des Eindrucks natürlich nicht verwehren, dass sie hier genau das zu dekonstruieren versucht, was ihr vorgeworfen wird. Wie es üblich ist für solche Dokumente, findet man wenig konkretes. Im Prinzip sind sich immer alle einig.
Für die Wahl der Konsitutante gilt in Tunesien eine 50% Quote für die Listenplätze. Frauen machen aber nur 7% der Spitzenplätze aus. Bei der grossen Zersplitterung der Parteienlandschaft reduziert dies natürlich die Wahlchancen von Frauen beträchtlich. Man muss vielleicht noch anfügen, dass einer der Top-Listenplätze in Tunis von Ennhdha einer Frau gegeben wurde (die übrigens ohne Kopftuch auftritt). Trotzdem ist die Partei vermutlich kaum frauenfreundlicher als die anderen. Auf die effektive Frauenvertretung darf man gespannt sein, war es doch auch ein Thema im Wahlkampf, wie man zum Beispiel in diesem Werbespot von einem tunesischen Frauenverband sieht, der Frauen zur Verteidigung ihrer Rechte auffordert und der im Wahlkampf ausgestrahlt wurde.
Der Anteil der Frauen im 2007 gewählten Schweizer Parlament war rund 30% (die Schweiz war ja nicht gerade schnell mit dem Erteilen des Stimm- und Wahlrechts für Frauen auf Bundesebene). Die SVP Fraktion hat einen Frauenanteil von 7.6% und man darf gespannt sein, ob die Ennhdha diesen Wert unterbieten wird. Was diese schlechte Vertretung bedeutet für die Kompetenz ihrer Frauen, wenn gemäss SVP “einzig die Eignung (…) darüber entscheiden [soll], wer welches Amt bekleidet.”
Quelle: https://www.parlament.ch/d/dokumentation/statistiken/Seiten/frauenanteil.aspx
Ich weiss warum es für mich ausgeschlossen ist, solche Parteien zu wählen. Sie leiden beide am selben Problem: Sie sehen die Welt durch die Linse eines Glaubenssystems, welches wie der Name schon sagt, eben nicht auf Fakten beruht. Da ich nicht bereit bin deren erfundenen Prämissen zu akzeptieren kann ich deren “Argumente” auch nicht nachvollziehen. Interessant ist es auch, dass zumindest auf der Basis der Parteiprogramme es offensichtlich wird, dass die Islamisten kein Monopol auf Intoleranz haben. Die Ähnlichkeiten sind erstaunlicherweise teilweise frappant und nur auf der Basis ihrer Programme kommt die SVP oft fundamentalistischer und radikaler daher als die tunesischen Islamisten. Dies hängt natürlich auch mit der Zielsetzung dieser Programme zusammen. Aber das sind die Texte nach denen sie antreten und an denen sie auch gemessen werden müssen (oder man glaubt beiden nicht).
Man sollte diese Gemeinsamkeiten im Hinterkopf behalten wenn man in den kommenden Tagen die Wahlanalysen zu den heutigen Wahlen hört. Vor allem wenn von Religion und Frauenfragen (oder eben gerade nicht) gesprochen wird. Eigentlich müsste man jeweils vor allem betonen, dass 70% (oder so hoffen wir) diese Parteien nicht wählt.
Die beiden Wahlen kann man übrigens gut auf Twitter verfolgen. Die Hashtags sind: Für die Schweiz #ew11 (bitte nicht auf Englisch lesen!) und für die Wahlen in Tunesien #tnelec
Frühere Einträge zu Tunesien:
Strassenproteste in Tunesien, 12. Januar 2011
Tunesien: Jasminrevolution oder Theatercoup, 14. Januar 2011
Tunesien: Sicherheitslage und Übergangsregierung, 17. Januar 2011
Tunesien ist nicht Ägypten, 31. Januar 2011
Die Muslimbrüder kommen (vielleicht), 15. Februar 2011
Arabischer Frühling und westliche Wahrnehmung, 4. Juli 2011
Wahlen in Tunesien: Ein Frühling macht noch keinen Sommer, 12. August 2011
Post-Revolutionäre Eindrücke aus Tunesien, 11. Oktober 2011
Proteste in Tunesien gegen den Film “Persepolis”, 15. Oktober 2011.
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