Heute wurde ich zur Urne gerufen und zwar gleich zwei Mal. In Tunesien findet die erste Wahl des sogenannten arabischen Frühlings statt. Bis heute Abend um 19.00 sind die Wahllokale noch offen. Aber auch die Schweiz wählt. Beide Kammern des Schweizer Parlaments werden heute neu besetzt. Was oft noch wichtiger ist, als das eigentliche Resultat, ist die Interpretation des Resultats.
Die beiden Wahlen eigenen sich gut um dies zu illustrieren. Fangen wir mit der wählerstärksten Partei in der Schweiz an: Die Schweizerische Volkspartei erhielt 2007 29% der Stimmen. Sie hat es in den vergangenen Jahren wie keine andere Partei geschafft, die Deutungshoheit von Wahl und Abstimmungsresultaten an sich zu reissen (und ich meine dies durchaus anerkennend): Immer schien es um sie zu gehen. Verlorene Abstimmungen zeigten immer “klar den Willen einer grossen unterlegenen Gruppe” der “nicht ignoriert werden” dürfe (diese Minderheit hat die SVP natürlich “alleine gegen die anderen Parteien” vertreten) oder bei einem Sieg wurde darauf gepocht, dass “die Mehrheit immer Recht” hätte. Da plötzliche grosse Verschiebungen in der Schweiz selten sind, wird die SVP ihren Wähleranteil wohl in dieser Grössenordnung halten können (die Umfragen legen dies auch nahe). Ich kann mir vorstellen, sollte sie die 30er Marke überspringen, dass ihr als grosser Erfolg ausgelegt wird (obwohl die Bedeutung bestenfalls psychologisch ist) und jede Einbusse als Niederlage, da es in den vergangenen Jahren immer aufwärts ging. Zwei Zahlen reichen vielen Medien für einen Trend auch wenn die Fluktuationen wenig bedeuten.
Die Partei die in Tunesien heute vermutlich mit dem grössten Wähleranteil aus den Wahlen hervorgehen wird, sind die moderaten Islamisten der Ennhdha, die hier schon mehrmals Thema waren. Voraussagen sind wie schon früher diskutiert schwierig, da Erfahrungswert fehlen und grösserer Abweichungen der spärlichen Resultate sind zu erwarten müssen solche Umfrage Stichproben doch immer noch stark gewichtet und überarbeitet werden.
Was mich hier besonders interessiert ist die Erwartungshaltung und der damit einhergehende Fokus vieler Medien für die bevorstehende Wahl. Was Tunesien betrifft scheint Ennhdha zu dominieren. Manchmal könnte man den Eindruck erhalten, das Abschneiden der Renaissancepartei sei der einzige relevante Massstab. Die wartende Story ist natürlich auch verlockend, ist es doch sehr wahrscheinlich, dass die Islamisten den ersten Platz einnehmen werden. Die ausländischen Medien berichten vermutlich, falls überhaupt, über die Schweiz auch vor allem mit Blick auf die SVP. Dort liegt das Gewicht aber in der Regel auf den (bewusst) provokativen Kampagnen und nicht auf den Gefahren eines SVP Sieges für die Schweiz. Wer möchte schon ein demokratisch legitimierte Wahlergebnis eines Nachbarlandes in Frage stellen?
Nun sind die SVP und die Ennhdha Parteien, die inhaltlich kaum verglichen werden. Aus naheliegenden Gründen sind es doch Parteien mit unterschiedlicher Geschichte und Wählergruppen in sehr verschiedenen Situationen. Aber gerade wegen den erwähnten divergierenden Interpretationen habe ich mir nun aber mal die beiden Parteiprogramme angeschaut und zwar vor allem in Hinblick auf die (meines Erachtens sehr berechtigte) Hauptkritik vom Umgang mit der Religion und dessen Konsequenzen für den Rechtsstaat und die Demokratie.
Interessant ist zuerst einmal, dass sich beide Programme (Ennhdha [Französisch][Englisch] und SVP) sich oft nicht mit dem eigenen Glauben beschäftigt sondern mit den andern und deren vermeintliche Perspektive auf diesen. Die SVP schreibt zum Thema Religion mehr über den Islam als über das Christentum und bei der Renaissance Partei kriegt man den Eindruck, wie das Programm über weite Strecken für ihre Kritiker und nicht ihre Basis geschrieben wurde. Ein defensiver Ton zieht sich durch das Papier. Beide Parteien betonen auch die religiösen Wurzeln und verpassen es nicht diese rhetorisch auch gleich kulturell zu verankern. Man will schliesslich nicht als Sektierer dastehen:
La Tunisie est un Etat libre et indépendant : Sa religion est l’islam, sa langue l’arabe, son régime la république
Tunesien ist ein freier und unabhängiger Staat: Seine Religion ist der Islam, seine Sprache arabisch, seine Staatsform die einer Republik. [Wahlplattform Ennhdha Seite 4, meine Übersetzung]
Die SVP bekennt sich zur christlich-abendländischen Kultur der Schweiz. Sie bildet die Basis für unsere Identität und unser Zusammenleben. Nicht ohne Grund trägt unser Land ein Kreuz im Wappen. [Parteiprogramm SVP, Seite 121]
Beide Parteien bekennen sich zu säkularen Prinzipien jeweils auch mit Blick auf religiöse Minderheiten:
17. La liberté de croyance et de pensée est garantie, de même que les droits des minorités religieuses.
17. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet, ebenso die Rechte der religösen Minderheiten. [Wahlplattform Ennhdha Seite 9, meine Übersetzung]
Weder eine Partei noch der Staat soll die Mitmenschen auf Glaubensdinge verpflichten oder ihnen den «richtigen» Glauben vorschreiben. Unsere Glaubens- und Gewissensfreiheit erlaubt allen Einwohnern das freie Denken, Schreiben, Sprechen – und Bekennen. Kirchen und Religionsgemeinschaften geniessen darum im Rahmen der Verfassung Freiheit der Verkündigung und Freiheit für die kirchlichen Tätigkeiten. Diese Toleranz findet aber da Grenzen, wo Religionsgemeinschaften die Toleranz verachten oder gar offen bekämpfen. [Parteiprogramm SVP, Seite 121]
Die SVP listet neun “Standpunkte” zum Thema Religion auf:
[Die SVP]
- steht zum christlich-abendländischen Fundament unseres Staates, unserer Kultur und unserer Rechtsordnung;
- fordert, dass Kreuze und Kruzifixe als Symbole unserer christlich- abendländischen Kultur und unserer Religion auch im öffentlichen Raum respektiert und toleriert werden;
- fordert die Kirchen auf, sich der Seelsorge und der Verkündigung der christlichen Botschaft zu widmen statt der Tagespolitik;
- lehnt jegliches religiöse Sonderrecht ab, das im Widerspruch zu unserer Rechtsordnung steht;
- fordert ein Verschleierungsverbot für Tätigkeiten des öffentlichen Dienstes, etwa im Gesundheitswesen, bei der Polizei, an öffentlichen Schaltern und in Lehrberufen;
- lehnt jeden Anspruch auf besondere Grabregeln auf öffentlichen Friedhöfen ab;
- widersetzt sich besonderen Feiertagsregelungen für nicht anerkannte Glaubensgemeinschaften;
- will, dass alle Schülerinnen und Schüler die obligatorischen Schulfächer besuchen, speziell auch den Sport- und Schwimmunterricht;
- verlangt die bedingungslose Durchsetzung des vom Volk beschlossenen Minarett-Verbots. [Parteiprogramm SVP, Seite 123]
Bei der Ennhdha sind die Religionsbezüge durch das Programm verteilt:
L’islam constitue un référentiel fondamental et modéré qui est en interaction, par le biais de l’effort d’interprétation et d’application (ijtihâd), avec toute expérience humaine dont l’utilité est avérée.
Der Islam ist eine fundamentale und moderate Referenzgrösse, welche durch die Anstrengung der Interpretation und konkreter Anwendung auf der Basis des Nutzens der menschlichen Erfahrung (ijtihâd) mit dieser interagiert [Wahlplattform Ennhdha Seite 4, mein Versuch einer Übersetzung. Französischer Satz ist mir auch nach mehrmaligen lesen gelinde gesagt unklar.]
Notre programme vise à mettre en place un modèle de développement national qui concilie les dimensions économiques, sociales, culturelles et écologiques tout en ayant comme points de repére les valeurs islamiques et les acquis de notre expérience tunisienne et de l’expérience humaine en général.
Unser Programm ziehlt darauf ab, ein nationales Entwicklungsmodell zu schaffen, welches ökonomische, soziale, kulturelle und ökologische Dimensionen zusammenbringt, alle mit islamischen Werten und unseren Erfahrungen als Tunesier und der menschlichen Erfahrung im Allgemeinen. [Wahlplattform Ennhdha Seite 5, meine Übersetzung]
Dazu kommen zwei Referenzen zu islamischen Finanzsystem (Seite 14 und 27). Es fällt auf, wie selten und vage die Referenzen zum Islam sind. Dies ist bestimmt nicht zuletzt um die Gegnerschaft zu beruhigen. Bei der SVP wiederum springt ins Auge, dass von den neun Punkten trotz der Ablehnung “jeglicher religiöser Sonderrechte”, die meisten genau solche schaffen wollen (aber halt für die Mehrheit). Man muss sich nur die Punkte unter umgekehrten Vorzeichen im Ennhdha Programm vorstellen und wie das in den westlichen Medien interpretiert würde. Ich vermute der Tenor wäre, dass dies einer Demokratie und einem liberalen Rechtsstaat unwürdig sei (zu Recht wie ich finde).
Noch ein letzter Punkt möchte ich hier anfügen. Die SVP betont immer wieder die frauenfeindliche Natur des Islams vor der sie die Frauen schützen möchte. Auch in ihrem Parteiprogramm findet man mehre Hinweise auf ihre Sorge um die Unterdrückung von Frauen im Ausland.
Männer und Frauen sollen sich miteinander, nicht gegeneinander engagieren. Nicht das Geschlecht, son-dern einzig die Eignung soll darüber entscheiden, wer welches Amt bekleidet. [Parteiprogramm SVP, Seite 120]
[Die SVP] fordert die Abschaffung der überflüssigen Gleichstellungsbüros und sonstiger Ämter, die das Privatleben staatlich reglementieren wollen [Parteiprogramm SVP, Seite 121]
Die Ennhdha hat neben einem knappen allgemeinen Artikel dem Thema Frau ein ganzes Kapitel gewidmet (Programm Seite 23) wo sie ökonomische Integration, Gleichberechtigung und speziellen Schutz fordert. Man kann sich des Eindrucks natürlich nicht verwehren, dass sie hier genau das zu dekonstruieren versucht, was ihr vorgeworfen wird. Wie es üblich ist für solche Dokumente, findet man wenig konkretes. Im Prinzip sind sich immer alle einig.
Für die Wahl der Konsitutante gilt in Tunesien eine 50% Quote für die Listenplätze. Frauen machen aber nur 7% der Spitzenplätze aus. Bei der grossen Zersplitterung der Parteienlandschaft reduziert dies natürlich die Wahlchancen von Frauen beträchtlich. Man muss vielleicht noch anfügen, dass einer der Top-Listenplätze in Tunis von Ennhdha einer Frau gegeben wurde (die übrigens ohne Kopftuch auftritt). Trotzdem ist die Partei vermutlich kaum frauenfreundlicher als die anderen. Auf die effektive Frauenvertretung darf man gespannt sein, war es doch auch ein Thema im Wahlkampf, wie man zum Beispiel in diesem Werbespot von einem tunesischen Frauenverband sieht, der Frauen zur Verteidigung ihrer Rechte auffordert und der im Wahlkampf ausgestrahlt wurde.
Der Anteil der Frauen im 2007 gewählten Schweizer Parlament war rund 30% (die Schweiz war ja nicht gerade schnell mit dem Erteilen des Stimm- und Wahlrechts für Frauen auf Bundesebene). Die SVP Fraktion hat einen Frauenanteil von 7.6% und man darf gespannt sein, ob die Ennhdha diesen Wert unterbieten wird. Was diese schlechte Vertretung bedeutet für die Kompetenz ihrer Frauen, wenn gemäss SVP “einzig die Eignung (…) darüber entscheiden [soll], wer welches Amt bekleidet.”
Quelle: https://www.parlament.ch/d/dokumentation/statistiken/Seiten/frauenanteil.aspx
Ich weiss warum es für mich ausgeschlossen ist, solche Parteien zu wählen. Sie leiden beide am selben Problem: Sie sehen die Welt durch die Linse eines Glaubenssystems, welches wie der Name schon sagt, eben nicht auf Fakten beruht. Da ich nicht bereit bin deren erfundenen Prämissen zu akzeptieren kann ich deren “Argumente” auch nicht nachvollziehen. Interessant ist es auch, dass zumindest auf der Basis der Parteiprogramme es offensichtlich wird, dass die Islamisten kein Monopol auf Intoleranz haben. Die Ähnlichkeiten sind erstaunlicherweise teilweise frappant und nur auf der Basis ihrer Programme kommt die SVP oft fundamentalistischer und radikaler daher als die tunesischen Islamisten. Dies hängt natürlich auch mit der Zielsetzung dieser Programme zusammen. Aber das sind die Texte nach denen sie antreten und an denen sie auch gemessen werden müssen (oder man glaubt beiden nicht).
Man sollte diese Gemeinsamkeiten im Hinterkopf behalten wenn man in den kommenden Tagen die Wahlanalysen zu den heutigen Wahlen hört. Vor allem wenn von Religion und Frauenfragen (oder eben gerade nicht) gesprochen wird. Eigentlich müsste man jeweils vor allem betonen, dass 70% (oder so hoffen wir) diese Parteien nicht wählt.
Die beiden Wahlen kann man übrigens gut auf Twitter verfolgen. Die Hashtags sind: Für die Schweiz #ew11 (bitte nicht auf Englisch lesen!) und für die Wahlen in Tunesien #tnelec
Frühere Einträge zu Tunesien:
Strassenproteste in Tunesien, 12. Januar 2011
Tunesien: Jasminrevolution oder Theatercoup, 14. Januar 2011
Tunesien: Sicherheitslage und Übergangsregierung, 17. Januar 2011
Tunesien ist nicht Ägypten, 31. Januar 2011
Die Muslimbrüder kommen (vielleicht), 15. Februar 2011
Arabischer Frühling und westliche Wahrnehmung, 4. Juli 2011
Wahlen in Tunesien: Ein Frühling macht noch keinen Sommer, 12. August 2011
Post-Revolutionäre Eindrücke aus Tunesien, 11. Oktober 2011
Proteste in Tunesien gegen den Film “Persepolis”, 15. Oktober 2011.
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