Wer heute das Radio oder den Fernseher einschaltete oder eine Zeitung zur Hand nahm (doch, doch, die existieren nach wie vor in der toten Bäume Version) konnte es nicht verpassen: Der von der Hamas entführte israelische Soldat Gilad Shalit wurde freigelassen. Es erstaunt wie hoch der Preis war, den Israel zu zahlen bereit war.
Da wäre zuerst einmal das rein zahlenmässige Missverhältnis von Gefangenen die im Gegenzug von Israel freigelassen werden sollen. Die erste Tranche war heute fällig und 477 Häftlinge wurden entlassen. Weitere 550 sollen später folgen. Es handelt sich bei vielen um wegen teilweise schweren Verbrechen verurteilten. Die Freilassung von Verurteilten mit “israelischem Blut an den Händen” war immer ein hoch emotionales Thema im öffentlichen Diskurs und schmerzt darum die Politiker wohl um so mehr. Es stellt sich auch die Frage, ob ein Rechtsstaat aus politischer Opportunität, rechtskräftig verurteilte frei lassen dürfen soll (man könnte natürlich behaupten es handle sich um eine Art Kriegsgefangene, aber das kann aus israelischer Sicht hier wohl ausgeschlossen werden).
Aber noch erstaunlicher finde ich den taktischen Preis, den Israel zu zahlen bereit war. Dieser kann auf viele Jahre hinaus Auswirkungen haben. In der Regel handelt das Land in einer klassischen Logik von Abschreckung und (massiver) Vergeltung. Gleich nach der Entführung wurden zum Beispiel Bodentruppen in den vorher aufgegebenen Gaza Streifen geschickt (obwohl dies vermutlich auch in der Hoffnung Shalit dort zu finden). Oder man denke zum Beispiel an die Politik der Hauszerstörungen als Abschreckungsmassnahme. Nicht von ungefähr behaupten Regierungen oft kategorisch, dass man mit Terroristen nicht verhandeln würde oder behaupten nach Geiselbefreiungen (zugegebenermassen oft mit wenig Glaubwürdigkeit), dass kein Lösegeld bezahlt wurde. Man will verhindern sich erpressbar zu machen und zu signalisieren, dass man vom Staat kriegen kann, was man will. Der Präzedenzfall von einem entführten Soldaten gegen über 1’000 Gefangene schafft gigantische Anreize für die Hamas es wieder zu versuchen. Es braucht offensichtlich nur eine Erfolgreiche Entführung und entsprechend Geduld. Es wurden auch schon Forderungen respektive Drohungen in diese Richtung laut. Allgemein folgt wohl auch eine deutliche Stärkung der Hamas bei den Wählerinnen und Wählern, dies wohl nicht zuletzt auf Kosten der Fatah.
Die Hamas hat natürlich auch Kompromisse eingehen müssen aber diese scheinen relativ bescheiden. Sie konnten einige der Führungspersönlichkeiten mit den symbolisch bedeutensten Namen nicht freikriegen. Zudem wurde für einige Gefangen nur ein Exil ausgehandelt, sie können also nicht in den Gaza-Streifen oder das Westjordanland zurückkehren. Inzwischen behauptet die Hamas übrigens, dass das Aufheben des Embargos gegen den Gaza Teil des Abkommens war (diese Aussage könnte natürlich gut rein taktischer Natur sein).
Nun stellt sich die Frage warum war Israel bereit diesen hohen Preis zu zahlen und warum einen der so offensichlich ist (es gibt immer auch die Möglichkeit geheimer Eingeständnisse)? Mir fallen dazu nur ein paar Spekulationen ein, habe aber kaum konkrete Anhaltspunkte gefunden.
Man könnte die Hoffnung haben, dass der Tausch einen Wendepunkt einläuten soll. Ein erstes Signal in Richtung einer neuen Politik gegenüber der Hamas. In Anbetracht der Politik der aktuellen Regierung in den letzten Jahren wäre dies eine riesige Überraschung und ich halte es für sehr unwahrscheinlich. Trotzdem entwickelt der Gefangenentausch nun eine eigene Dynamik, die vielleicht tatsächlich Anknüpfungspunkte für neue Ansätze bringen könnte. Wunder erwarte ich keine.
In einer zynischere Sichtweise könnte den Verdacht aufkommen lassen, dass die Regierung Netanjahu bewusst die Hamas zu stärken versucht, da sie mit dem Status Quo und den in Hamas und Fatah gespaltenen Palästinensern eigentlich ganz zufrieden ist. Dies ist zwar nicht ganz abwegig und hat vielleicht auch eine Rolle gespielt aber selbst für ein solches divide et impera erscheint mir der Preis noch viel zu hoch.
Es könnte natürlich auch an nicht veröffentlichten Passagen des Abkommens liegen. Vielleicht hat die Hamas Dinge versprochen, die sie aus Gesichtswahrungsgründen nie öffentlich eingestehen könnte. Ausser einem Versprechen im Zusammenhang mit dem Raketenbeschuss Israels aus dem Gaza-Streifen oder künftig keine solche Entführungen zu unternehmen, fällt mir aber kaum etwas ein, hat die Hamas wegen dem beträchtlichen Machtgefälle anzubieten hätte. Ausserdem müsste dies wohl etwas verifizierbares sein oder zumindest wo Garantien hätten geboten werden können (ich weiss nicht wann die zweite Welle der Freilassung stattfinden soll, ist diese für eine Weile nicht vorgesehen, könnte dies ein “Pfand” sein).
Es natürlich auch möglich (und oft ist es in der Politik tatsächlich viel simpler als alle taktischen Spekulationen es suggerieren), dass der öffentliche Druck in Israel schlicht zu gross war und man deshalb bereit war, diesen Preis zu zahlen. Die Familie des Entführten hat eine ziemlich effektive Kampagne für seine Freilassung geführt und die starke Identifikation mit dem Militär hat dann das ihrige dazu beigetragen. In Anbetracht des Stellenwertes einer erfolgreichen Freilassung von Shalit sah die Regierung genug kurzfristigen politischen Gewinn trotz des hohen langfristigen Preises.
Vielleicht wissen wir in ein paar Monaten mehr.
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