Das berühmte Elektroschock-Experiment von Stanley Milgram ist nicht zum ersten Mal Grund für einen Eintrag hier. Ich habe in der Vergangenheit schon meine methodisch begründeten Zweifel angedeutet. Ich fragte inwiefern das Experiment tatsächlich belegt, dass die Bereitschaft einen Mitmenschen zu quälen, bei uns allen eigentlich sehr gross ist, wenn wir entsprechenden Befehlen ausgesetzt sind. Nun musst ich lernen, dass ich dem guten Milgram unrecht getan habe.
Die Perspektive eines Teilnehmers am Experiment habe ich hier schon einmal verlinkt. Auch den eher missglückten Versuche einer (unwissenschaftlichen) Reproduktion durch einen französischen Fernsehsender wurde hier schon diskutiert. Beide Fälle illustrierten meines Erachtens sehr gut, wie stark der Rahmen das Resultat beeinflusst. Doch dies war offenbar auch Milgram bewusst.
Sollte was hier folgt allgemein bekannt sein (es steht schliesslich sogar teilweise in der Wikipedia), dann ist hierfür alleine meine eigene Ignoranz bezüglich der Details des Experiments verantwortlichen zu machen. Für mich persönlich war es aber einfach erstaunlich, dass nach so vielen beiläufigen Referenzen zum Experiment auch im akademischen, mir diese differenzierte Sicht nie begegnete. Es ist fast so was wie ein soziologischer Mythos (zumindest für mich Nicht-Soziologen).
Die populäre Version des Experiments ist diese: Auf Geheiss eines Expermimentleiters waren 65% (26 von 40) der Probanden in einem Versuch von dem sie glaubten, er hätte Lernmethoden zum Thema, einem anderen Menschen stetig höhere Elektroschocks zu verpassen und bis zum für das Experiment vorgesehene Maximum zu gehen. Daraus soll man ableiten können, dass auch “normale” Menschen auf Befehl bereit sind andere zu quälen. Dies war aber nur ein Ausgangsexperiment in einer langen Reihe von 18 Folgeexperimenten.
So änderte Beispielsweise Milgram die Nähe zum Opfer. War im Grundlagenexperiment das vermeintliche Opfer in einem anderen Raum und die Reaktion nur akustisch, gingen die Variationen bis zum auflegen der Hand des Opfers auf die Schockplatte. Die Bereitschaft zum Maximum zu gehen sank auf 30%. Wenn der Experimentsleiter selber nicht im Raum war, sondern nur am Telefon sank die Zahl sogar auf 20.5%. Wenn der Proband selber die Voltzahl bestimmen durfte waren es nur noch 2.5%, die bereit waren zum Maximum zu gehen. Mit zwei weiteren vermeintlichen “Lehrern” zur Seite (tatsächlich Schauspieler), die Bedenken äusserten, waren nur noch 4 der 40 Probanden bereit weiterzumachen. Sass der Proband hingegen nicht direkt am Drücker, sondern vollbrachte nur eine Hilfsleistung (z.B. Frage lesen) gingen 37 der 40 Testpersonen bis zum Ende.
Liest man nun nochmals die vorgeschriebenen Eskalationssätze des Experimentleiters, merkt man, dass das Experiment vielleicht weniger über Gehorsam aussagt, als über Vertrauen in Autoritäten, nicht zuletzt auch Wissenschaftler und Gruppendruck. Sollte ein Proband nicht weitermachen wollen, war der Experimentleiter angewiesen folgende Eskalationsstufen zu verwenden. Die waren wie folgt:
1: Please continue or Please go on.
2: The experiment requires that you continue.
3: It is absolutely essential that you continue.
4: You have no other choice, you must go on.1: “Bitte fahren Sie fort” oder “Bitte machen Sie weiter”.
2: “Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen”.
3: “Es ist absolut essentiell, dass Sie weitermachen”.
4: “Sie haben keine andere Wahl, Sie müssen fortfahren”.
Diese Sätze klingen plötzlich anders, bedenkt man die Resultate der Folgeexperimente. Der zu vor erwähnte Kontext eben.
Wieder einmal muss ich Radiolab als Inspirationsquelle nennen, welches kürzlich in einer Folge mich darauf aufmerksam machte, dass das Milgram Experiment nicht nur aus dem ersten weltberühmten Versuch bestand, sondern auch aus vielen Folgeexperimenten. Die Prozentzahlen habe ich aus diesem Experimentbeschrieb und dem englischen Wikipedia Artikel zum Thema übernommen.
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