Regelmässige Leserinnen und Leser dieses Blogs wissen, dass ich hier immer wieder den Standpunkt vertrete, dass zu einer Demokratie mehr gehört, als blosse Mehrheitsentscheide. Gestern haben wir in der Schweiz wieder einmal abgestimmt und einige haben sich plötzlich daran erinnert gesehen, dass einfache Mehrheiten nicht unbedingt Fairness garantieren.
Zur Abstimmung standen verschiedenen Vorlagen, unter anderem zur Buchpreisbindung und zum Bausparen. Was hier aber interessiert, ist eine Volksinitiative zur Beschränkung des Zweitwohnungsbaus. Die Initiative verlangt, dass der Anteil an Zweitwohnungen auf 20% pro Gemeinde beschränkt wird. Diese Initiative wurde knapp angenommen. Vermutlich hat sie auch mit Themen, die tief im helvetischen kollektiven Bewusstsein verankert sind (die unberührte Alpenwelt, Ausländer kaufen Schweizer Boden), auch konservativere Kräfte angesprochen und zum Ausscheren von Parteiparolen ermuntert. Um diesbezüglich Schlüsse ziehen zu können, muss man natürlich die Nachwahlbefragung abwarten. Natürlich sind auch etliche Probleme in der Umsetzung der angenommen Initiative wieder einmal vorprogrammiert.
Ich spreche diese Initiative an, weil die geographische Verteilung der Stimmen zum Nachdenken anregen sollte. Die untenstehende Karte vom Bundesamt für Statistik illustriert das Problem schön. Die eigentlich geographische Zielgruppe der Initiative haben sich nämlich eher gegen die Initiative ausgesprochen. Dafür waren die Städte und das dicht besiedelte Mittelland Feuer und Flamme für die Einschränkung des Zweitwohnungsbaus (in anderen Kantonen). Für die mit der Schweizer Geographie vielleicht nicht so vertrauten Deutschen Leserinnen und Leser: Stellt euch auf der Karte einfach mal vor, wo die Alpen durchgehen und an welchen pittoresken Schweizer Seen man sich gut eine Zweitwohnung bauen kann, wenn man genügend auf der hohen Kante hat.
Liest man nun bei der NZZ online die Kommentare, reibt man sich überrascht die Augen. Wo einem sonst schnell ein “die Mehrheit hat immer recht, basta!” entgegengehalten wird und rasch die demokratische Überzeugung in Frage gestellt wird, wagt man es Zweifel zu äussern, dass Mehrheitsentscheide per Definition immer richtig sind, klingt es plötzlich ganz anders. Von den “Grenzen der Demokratie” “Diktat von Nichtbetroffenen” und von “Pöbelherrschaft” ist da plötzlich Rede in den Kommentaren. Gleichzeitig findet man auch Kommentare mit Seitenhiebe gegen die SVP, die den Mehrheitsentscheid gegenüber einer “Dikatur” abgrenzen. “Demokratie” und “die Mehrheit” sind offensichtlich reine Gefälligkeitsargumente. Ich habe auch kaum Hoffnung, dass sich bei der nächsten gewonnen Abstimmung, sich jemand an das Problem der “Mehrheitsdikatur” erinnern wird.
Natürlich kann das Problem bei einem Mehrheitsentscheid nie ganz verhindert werden. Wie immer befinden wir uns auf einem Spektrum. Das eine Extrem dieses Spektrums ist aber ein “Die Mehrheit hat immer Recht”. Gerade im hier beschriebenen Fall hätte es im Schweizer System durchaus auch eine Bremse gegeben, da auch eine Mehrheit der Kantone nötig war. Diese hat knapp nicht gewirkt. Aber dieser Minderheitenschutz war immer noch zu schwach um zu verhindern, dass urbanere Gebiete ruraleren Vorschriften machen, wie sie ihre Bauplanung zu gestalten haben (natürlich gibt es auch wiederum in beiden Gebieten überstimmte Minderheiten). Vielleicht erinnert sich bei der nächsten Europa- oder Immigrationsabstimmung jemand in den nun überstimmten Gebieten daran. Da passiert grenznahen Gebieten oder Regionen mit hohem Ausländeranteil oft ähnliches.
Wäre man ehrlich, hiesse es vermutlich nicht “Die Mehrheit hat immer Recht” sondern “Ich habe immer Recht”.
P.S.: Um eventuellen Kommentaren vorzugreifen: Trotz der leichten Häme, die vielleicht zwischen einiger meiner Zeilen gefunden werden könnte, möchte ich festhalten, dass ich in dieser Abstimmung auf der “Verliererseite” stand (nicht zuletzt gerade wegen der hier geäusserten Bedenken). Es ist für mich nur ein Thema, das mir weniger am Herzen liegt, als andere und ich halte die Auswirkungen des Entscheides für weniger dramatisch.
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