Die letzte Ausgabe des Magazins “Jeune Afrique” hat auf der Titelseite ein Bild von Rachid Ghannouchi, dem Mitbegründer der tunesischen Islamisten-Partei und nach wie vor einflussreichen Politiker. Darunter prangt der Titel: “Rachid Ghannouchi, der Mann der die Tunesische Revolution verraten hat” (Rached Ghannouchi, l’homme qui a trahi la révolution tunisienne). Der klare Kommentar verdient auch mehr Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen Welt. Darum hier eine kurze Zusammenfassung.
Der Artikel wirft Ghannouchi vor, seine moderaten Ansichten nur vorgetäuscht zu haben und in Tat und Wahrheit Schritt für Schritt das “Einrichten einer Theokratie in Tunesien” zu betreiben. Der “Machiavelli von El-Hamma” sei jedoch Stratege genug um nicht vorzupreschen, da er weiss, dass er im Moment mit diesem Vorhaben keinen Erfolg haben kann. Er legitimiere sich als Revolutionär und als Religiöser Denker, der “wahre Ghannouchi” sei jedoch viel mehr der Religion als Tunesien verpflichtet.
Ghannouchi betreibe aus dem Hintergrund einen “permanenten Guerilla-Krieg” an mehreren Fronten und versuchte alles unter seiner Kontrolle zu behalten. Gemäss dem Artikel sei im Büro des Premierministers (ein Parteikollege) ein Aufpasser platziert gewesen, der ohne anzuklopfen in Meetings reinspazierte oder auch mal unaufgefordert durch Dokumente und Memos auf dem Schreibtisch des Regierungschefs ging.
Der Artikel glaubt aber für Tunesien noch nicht alles verloren. Die tiefe Spaltung von Ennahdha (Ghannouchis Islamisten-Bewegung) sei so stark wie noch nie. Die Partei sei auch gespalten zwischen jenen, die unter der autoritären Herrschaft von Ben Ali in tunesischen Kerkern sassen (wie der bisherige und der neue Premier, die beide als gemässigt gelten) und jenen, die wie Ghannouchi im Exil lebten. Erstere seien realistischer und die besseren Patrioten die sich mehr an Europa und weniger an den Geldtöpfen des Golfs orientierten (nicht dass es in Europa kein Geld zu holen gäbe).
Der Mord an Chokri Belaïd und die politische Krise die folgte und noch in vollem Gange ist, könnte eine Chance für Tunesien sein, sich dieses “Abszesses zu entledigen.” Die Situation erlaube es der Opposition zusammenzufinden. Der grösste Feind von Ghannouchi sei “die tunesische Strasse.” Der Kommentar schliesst mit der Festellung, dass zum Glück für die Tunesierinnen und Tunesier nicht jeder ein Machiavelli sei, der es sein möchte.
Ich habe nach den Wahlen geschrieben, dass es schwer einzuschätzen ist, was Ghannouchi und die Islamisten wollen und dass man sie wohl an ihren Taten beurteilen muss. Auch wenn noch keine abschliessende Beurteilung gemachtwerden kann, ist der hier besprochene Artikel ein guter Ausgangspunkt für eine Zwischenbilanz. Ennahdha hat einerseits im Rahmen der gesetzten Spielregeln der verfassungsgebenden Versammlung mitgespielt. Anderseits gab es viele bedenkliche Vorstösse, die die Partei als wesentlich konservativer erscheinen liessen, als viele ihrer Führer zu sein behaupten. Auch scheint es innerhalb der Partei eine Verschiebung in Richtung der konservativerer oder gar radikaler Kräfte zu geben. Die Bilanz ist also durchzogen.
Wie ist also diese scharfe Verurteilung durch “Jeune Afrique” (eine Stimme die nicht einfach beiseite gewischt werden kann) einzuordnen? Da ich weder zur Politik Tunesiens forsche noch Arabisch spreche, kann ich nur eine (hoffentlich informierte) Meinung beisteuern, ohne grossen Anspruch auf Autorität. Einerseits ist bei mir auch der Eindruck entstanden, dass Ghannouchi Kreide gefressen hat. Es scheint aber auch zu stimmen, dass er bisher nicht von demokratischen Methoden abgerückt ist.
Ein Hinweis darauf, dass der Autor des Artikels auch ein politische Agenda verfolgt mit seinem Kommentar, sehe ich in der Erwähnung von zwei Videos die im Oktober aufgetaucht sind. Ghannouchi spricht zu Salafisten und mahnt sie zur Geduld (ich kann mich da aber nur auf Quellen aus zweiter Hand berufen, da der Clip natürlich arabisch ist), weil die Islamisten noch keine Kontrolle über wichtige Institutionen hätten. Bevor dies als klarer Beweis für das Denken des Ghannouchi verwendet wird, muss jedoch auch der Kontext in Betracht gezogen werden. Nicht nur ist Ennahdha unter starkem Druck von Seite der Salafisten (wie ich hier schon thematisiert habe und vielleicht gibt es mehr dazu, wenn ich endlich den kürzlich erschienen Crisis Group Bericht zum Thema gelesen habe), der Clip wurde vermutlich auch zu einem Zeitpunkt aufgenommen, als es darum ging, ob die Scharia in der Verfassung Erwähnung finden sollte oder nicht. Die Hypothese, dass Ghannouchi hier als Politiker die Salafisten anlügte ist ebenso plausibel wie dass dies sein “wahres Gesicht” zeigt.
Ghannouchi mag eine undemokratische Vision für das Land haben. Dies stimmt jedoch auch für einige rechte und linke Parteien in unseren Breitengraden. Solange sie sich an die Spielregeln halten, lässt man Ihenen um der Demokratie Willen ihre Fieberträume von xenophob-populistischen Mehrheitsdiktaturen oder verstaatlichten Produktionsmittelund lässt sie weiter am System teilnehmen. Man muss jedoch wachsam bleiben, dass diese Fantasien auch solche bleiben.
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