Ich habe eine ungesunde Angewohnheit. In meinem Feedreader habe ich nicht nur Quellen, die ich gerne lese, weil ich dort interessante Denkanstösse finde, sondern auch einen anderen Ordner, den ich “Contra” nenne. Dort kommen viele Artikel rein, die in der Regel meinen Blutdruck hochgehen lassen aber auch einige, die zwar Substanz haben, aber in meinen Augen oft völlig danebengreifen. Zur ersteren Gruppe gehört für mich meist der Feed der “Achse des Guten”.
Was mir dort besonders auffällt ist, wie systematisch dort Nachrichten selektiv aufgegriffen werden. Das Kriterium scheint nicht die Qualität der News zu sein, sondern nur ob sie die vorgefasste Meinung bestätigen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung fehlt gänzlich. Je länger man einen solchen Filter einsetzt, desto schwieriger wird es vermutlich ein Thema noch differenziert zu betrachten. Der “einerseits-andererseits” Reflex, den man gerade in den Sozialwissenschaften pflegen sollte, verkümmert völlig. In einem ähnlichen Licht kann man die Diskussion unter meinem letzten Eintrag oder mit Homöopathiefans betrachten. Wenn ich eine Geschichte, einen Fall habe, der eine Kausalität suggeriert, dann reicht das als Bestätigung. Weil das Faktum ist schon etabliert und jedes weitere Beispiel ist nur eine Bestätigung davon. Alles andere wird ausgeblendet.
Heute bin ich über eine sehr schönes Beispiels für diese Selektivität gestolpert. Mein Feedreader spuckte nämlich in besagtem Ordner die AchGut Schlagzeile “Helmut Kohl: Ich handelte wie ein Diktator, um den Euro einzuführen” aus. Das ganze fand sich auf dem Blog von Benny Peiser, auch sonst einem Weltmeister der selektiven Wahrnehmung. Sein Lieblingsthema ist eigentlich der Klimawandel, der in seinen Augen nicht stattfindet. Dazu habe ich nicht viel zu sagen und ich überlasse das gerne Georg auf Primaklima.
Ob er sich damit selber betrügt oder ob er bewusst manipuliert kann ich nicht beurteilen, aber es ist ein ausgezeichnetes Beispiel wie man vorgefasste Meinungen verstärkt durch das Filtern von Fakten und Kontext.
Es gibt gewisse Attribute, die in EU Diskussionen und vor allem auch in Zusammenhang mit dem Euro zum Standardrepertoire der Gegenerinnen und Gegner gehören. Ein Mangel an demokratischer Legitimität ist der Grundton dieser Kritik: “Brüsseler Diktat”, “undemokratische EU”, “Eurokraten bestimmen”, “von Brüssel aufgezwungen”, “nicht-gewählte Kommission”, etc. kommen so sicher wie das Amen in der Kirche. Ganz klar, dies können alles legitime Einwände sein, aber man muss es von Fall zu Fall diskutieren. Ebenfalls zur Diskussion gehört dann aber welches denn die demokratischen Alternativen wären. Diese sind nämlich nicht per Definition bei den nationalen Regierungen angesiedelt, da man dort oft das gleiche Argument gegen eine Machtzentralisierung gegenüber den Regionen anbringen könnte. Aber viele dieser Eurokritikerinnen und -kritiker sind davon überzeugt, dass die EU als ganzes pauschal undemokratisch ist und gegen den Willen der Bevölkerung von “denen da oben” (d.h. ihren eigenen Regierungen) aufgezwungen wurden. Das ist wohl auch der Grund warum es so viele Mythen gibt, was die EU alles verbieten und reglementieren würde (interessanterweise handelt es ich oft um nationale Spezialitäten).
Im besagten Blogeintrag von Peiser wird auf eine Dissertation verwiesen, dessen Autor Altbundeskanzler Helmut Kohl im Jahr 2002 zum Euro interviewte hat. Folgende beide Zitate werden im Post gemacht (Copy-Paste von anderen im Netz gefundenen Artikel):
Eine Volksabstimmung hätte ich natürlich verloren, und zwar im Verhältnis 7 zu 3.
Helmut Kohl war bei der Einführung des Euro entschlossen wie ein Diktator, und hat bei seinem Engagement für den Euro in Deutschland gegen den Willen des Volkes gehandelt. Das sagte niemand anders als der Altbundeskanzler Helmut Kohl selbst.
Schockiert? Bestätigt?
Lasst mich ein wenig Kontext aus dem Interview hinzufügen (meine Hervorhebung):
Paul: Axel Bunz, der Leiter der Berliner Vertretung der Europäischen Kommission, schwört: Hätte es eine Volksabstimmung in Deutschland über den Euro gegeben, wäre diese positiv ausgegangen.
Kohl: Kein ernsthafter Demoskop behauptet so etwas. Eine Volksabstimmung hätte ich natürlich verloren, und zwar im Verhältnis 7 zu 3. Vor allem: Wen hätte ich denn als Weggenossen gehabt? So müssen Sie es doch einmal sehen! Der Mann hockt doch in einem goldenen Käfig. Wenn wir die Schlacht eröffnet hätten – wäre er mit mir in die Schlacht gezogen?
(…)Paul: Warum haben Sie sich überhaupt den Kopf über eine Volksabstimmung zerbrochen? Die war doch nach unserer Verfassung überhaupt nicht nötig.(…)Kohl: Wie dem auch sei: Das ist keine Frage, ob es die Verfassung verlangt oder nicht. Man hätte ja viele Möglichkeiten haben können.
Wir haben die drastischste Volksabstimmung, die es gibt zu diesem Thema: Das sind die Bundestagswahlen.
Also vielleicht doch nicht einfach Diktator im Geiste? Nochmals das Zitat im Kontext:
Paul: Sie haben vorhin gesagt, bei manchen Themen seien Sie ein Zauderer gewesen, ein Aussitzer…
Kohl: Ich sage das nicht. Das wird mir nachgesagt.
Paul: …und bei anderen Themen Diktator. Beim Euro.
Kohl: Ich habe beim Euro eine Position gehabt. Das gleiche müssen Sie natürlich sagen für die Nachrüstung und für die Deutschland-Politik.
Kohl reagierte also mit dem “Diktator” Satz auf den Vorwurf er wäre eine “Aussitzer” gewesen. Es ist offensichtlich ein rhetorischer Kniff und nicht eine juristische oder politische Einschätzung. Aber noch viel interessanter ist, dass wenn man es denn unbedingt als Eingeständnis werten möchte, er hätte am Rande des in einer Demokratie akzeptablen agiert, warum war die Schlagzeile bei der Achse des Guten nicht:
Helmut Kohl: Ich handelte wie ein Diktator beim Nato-Doppelbeschluss
oder
Helmut Kohl: Ich handelte wie ein Diktator bei der Wiedervereinigung
Ach ja, weil der Nato-Doppelbeschluss und die Wiedervereinigung waren natürlich “gute” Politik. Dann ist Diktator sein OK.
So funktioniert es halt. Man pocht auf Prinzipien. Aber nur solange sie den eigenen Zielen entgegenkommen.
Solche selektive Wahrnehmung findet ihren Ursprung entweder in einer Unfähigkeit mit Informationen kritisch umzugehen oder aber aus dem Wunsch zu manipulieren. Egal ob es um Migrationspolitik, Islam oder Klimawandel geht, bei der Achse des Guten hat sie auf jeden Fall System.
Nachtrag: Jens Peter Paul der für das Interview verantwortlich ist, hat die Aussagen ebenfalls kommentiert (und schlägt in die gleiche Kerbe wie ich). Grosszügig meint er man müsse halt “schon genau lesen.” Ich glaube “weiterlesen” wäre bei manchen schon ein Fortschritt.
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