Die Diskussionen um den Freispruch von George Zimmerman haben in den USA die Emotionen hochgehen lassen. Vieles wurde zu dem Fall geschrieben, es wurde analysiert, polemisiert, verbal attackiert und manchmal sogar wirklich nachgedacht. Das Echo dieser Diskussionen schwappten auch nach Europa. Unter anderem vermutlich auch weil es einfach ist, darin zu Recht oder Unrecht viele US Klischees zu erkennen. Ich möchte nun etwas verspätet auch noch ein paar Gedanken hinzufügen, weil ich denke, dass gerade in den Kommentaren auf dieser Seite des Atlantiks vieles doch etwas verkürzt wiedergegeben wurde.
Anlass für diesen Eintrag war dieser Beitrag, den ich bei Zettels Raum gefunden habe. Beim ersten Lesen ist stolperte ich darüber, dass darin auch ein Artikel von Hansjörg Müller bei der Achse des Guten verlinkt und als “exzellent” bezeichnet wurde. Müllers Artikel war mir aufgefallen, aber weniger wegen seiner Exzellenz als wegen seiner Uninformiertheit. Das hat mich bei AchGut aber nicht überrascht und ich habe ihm deshalb am Anfang keine weitere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Kopfschüttelnd las ich also den Eintrag bei Zettels Raum zu Ende. Doch nach einer zweiten Lesung fiel mir auf, dass es daran eigentlich wenig zu meckern gibt. Vielleicht am ehesten, dass es stark eine Seite eines Problems ausleuchtet und der Differenzierungen eine Nebenrolle zuweist (“Die Debatte in den USA mag richtig und wichtig sein. Allerdings…”). Überall wo Müller grobschlächtig und unpräzise ist, argumentiert Döding differenziert oder tönt zumindest die notwendigen Vorbehalte an. Genau diese Unterschiede fassen gut zusammen, wo ich Probleme in vielen Diskussionsbeiträgen sehe.
Bei den Netzdebatten sah ich mich öfters mit Leuten auf einer Seite, mit denen ich ansonsten überhaupt nicht einverstanden bin. Das Problem ist, dass ich hier öfters schon Menschen verteidigt habe, von denen ich mich distanzieren möchte: Sexualstraftäter, Rassisten, Fundamentalisten jeglicher Couleur. Aber es darf halt keine Justiz per Volksgefühl geben. Ein Freispruch ist ein Freispruch. Die öffentliche Meinung ersetzt nicht ein Justizsystem. Wenn Verfahren zu unliebsamen Resultate führen, dann muss nachgewiesen werden, dass es einen Fehler im Verfahren gibt, Befangenheit dafür der Grund war oder vielleicht, dass die Gesetze das Problem sind. Aber im Zweifel für den Angeklagten gilt auch, wenn dieser ein Neonazi oder ein Kinderschänder ist. Gerade in diesen Fällen muss man besonders aufpassen. Der Rechtsstaat zeichnet sich auch darin aus, wie er die unbeliebtesten Elemente schützt.
Der Fall von Trayvon Martin liess tiefe Narben hervor treten. Das ist der erste Punkt den Müller nicht versteht. Die Geschichte der Sklaverei und der Rassentrennung lasten schwer auf dem kollektiven Unterbewusstsein. Einige dieser Narben sind nicht sichtbar und entzünden sich in Fällen wie jenem von Trayvon. Andere sind sehr sichtbar. Zum Beispiel wie die ökonomische Segregation die USA vielerorts auch nach Hautfarbe trennt: Geographisch, Arbeit, Universitäten, etc. Der Vorwurf des umgekehrten Rassismus, der bei Müller zwischen den Zeilen hervortrieft und in den Kommentarspalten unverhohlen zum Ausdruck kommt, kommt in Anbetracht dieser Situation nur als Hohn rüber. Vor allem wenn er von einem Weissen Mann aus dem Deutschen Mittelstand kommt.
Die Unterscheidung, die viel zu wenig gemacht wird in den Diskussionen, ist die Unterscheidung zwischen dem konkreten Einzelfall und der Statistik. Dies ist mir auch in den US Debatten aufgefallen. Das US Justizsystem hat eine rassistische Schlagseite. Wer schwarzer Hautfarbe ist, hat eine grössere Wahrscheinlichkeit zum Tod verurteilt zu werden, eine grössere Wahrscheinlichkeit hinter Gittern zu landen, über 80% aller junger Afro-Amerikaneren haben einen Eintrag im Strafregister und einer von neun sitzt im Gefängnis. Vieles davon hat vermutlich mehr mit dem sozioökonischen Status als mit der Hautfarbe zu tun, zwei Merkmale die sich eben weit überlappen.
Im spezifischen Fall ging es auch um die umstrittene Regelung der “Stand your Ground Law” (“Weiche nicht zurück Gesetz”), welches in Florida und anderen Staaten gilt. Es besagt, dass man, falls angegriffen, nicht zuerst versuchen muss, sich aus der Gefahr zurück zu ziehen, sondern dass es legitim ist, sich direkt zur Wehr zu setzen. In Kombination mit der weiten Verbreitung von Schusswaffen, naheliegenderweise eine gefährliche Mischung. Soviel ich weiss, waren die Stand Your Ground Regelungen nur indirekt relevant in diesem Fall, aber ich erwähne sie hier noch aus einem anderen Grund. Statistisch gesehen variiert die Wahrscheinlichkeit damit davon zu kommen stark in Abhängigkeit der Hautfarbenkombination. Bei Stand your Ground sind Weisse bei Angriffen auf Schwarze noch mehr im Vorteil, als bei klassischen Selbstverteidigungsfällen.
Hier besteht das Problem: Das System diskriminiert nach Rasse. Die Gründe können vielfältig sein: Ökonomische Möglichkeiten, Vorurteile, effektive Umstände der Tat, etc. Aber das ist hier zweitrangig. Wichtig ist, dies lässt keine Rückschlüsse auf den spezifischen Fall zu. Wir wissen Substanz X erhöht das Risiko, an Y zu erkranken um 50%. Wir können aber bei Patient Meyer trotzdem nicht sagen, ob er wegen einer Exposition zu X erkrankt ist oder nicht. Darum können wir ohne zusätzliche Information auch nicht sagen, ob Zimmerman völlig zu Recht freigesprochen wurde, oder ob es anders ausgegangen, wäre sein Opfer Weiss gewesen und er Afro-Amerikaner.
Bis jetzt könnte man noch sagen, dass der Müller halt etwas spitz formuliert, nur eine Seite ins grelle Scheinwerferlicht zerrt, um eine Debatte zu provozieren. Wo er sich dann definitiv in die Abgründe rassistischer Vorurteile stürzt, ist in diesem unsäglichen Schlussabschnitt:
Während sich Amerikas Augen auf Sanford richteten, ging das Sterben andernorts weiter: Allein an dem Wochenende, an dem Zimmerman freigesprochen wurde, wurden im Süden Chicagos, Amerikas gefährlichster Gegend, fünf Männer erschossen, vier Schwarze und ein Latino. Der Aufschrei blieb aus, denn weisse Täter waren nicht auszumachen: 90 Prozent aller Tötungsdelikte an Afroamerikanern werden von Afroamerikanern verübt. Schwarze töten Schwarze – für Al Sharpton und Barack Obama kein Grund zur Empörung.
Dieses Argument konnte man auch im US Diskurs hin und wieder finden. Was ist daran so schlimm? Erstens stimmt es nicht. Afro-Amerikaner sind sehr wohl besorgt um die Kriminalität die von “Schwarzen gegen Schwarze” stattfindet und sind untere anderem auch deswegen mehr für schärfere Waffengesetze. Solche Morde machen einfach viel weniger Schlagzeilen und schon gar keine Europäischen. Wenn Müller so besorgt ist um die afro-amerikanischen Opfer von Kriminalität, könnte er ja auch ein paar provozierende Kommentare dazu schreiben. Oder wo sind seine Diskussionen zum hohen Gefangenen-Raten in den USA oder die überproportionale Vertretung von Schwarzen die in Zellen auf ihre Hinrichtung warten? Ich habe den Verdacht, die sind ihm ziemlich egal und es besteht ein grosser Verdacht auf Betroffenheitsgetrolle.
Zweitens bedient sich dieser Schlussabschnitt eines Klischees, in dem er eine andere Realität einfach ausblendet: Die meisten Verbrechen in den USA werden von Weissen verübt. Natürlich nicht wegen deren Hautfarbe sondern einfach weil sie die Mehrheit sind. Vermutlich werden global gesehen die meisten Verbrechen von Chinesen begangen. Die Morde von Weissen an Weissen bewegen sich in einer ähnlichen Proportion wie für Schwarze an Schwarzen. Was das Weiterverbreiten dieser Behauptung vor allem macht, ist Kriminialität als afro-amerikanisches Problem darzustellen. Implizit wird die Hautfarbe zum Erklärungsfaktor. Dies ist ein Grund der zu eben jenen Vorurteilen führt, die die Wurzel der Diskriminierung ist. Es ist das Klischee, das den Teufelskreis, den Müller mit seiner geheuchelten Besorgnis vorgibt durchbrechen zu wollen, weiter anheizt.
Das Problem ist zusammengefasst folgendes: Ein unbewaffneter Teenager ist tot. Erschossen wurde er von einem Vigilante, der den Notruf auf seiner Kurzwahlliste zu haben scheint (hier sind die 46 Anrufe die er seit 2006 getätigt hat) und zu dessen Waffenschein noch einige offene Fragen bleiben. Er tat dies nachdem ihm ausdrücklich gesagt wurde im Auto zu bleiben und nicht die Konfrontation zu suchen. Inwiefern rassistische Vorurteile mitgespielt haben, können wir nicht mit Sicherheit wissen (es besteht der Verdacht, aber wir haben nichts handfestes). Wir können auch nicht herausfinden, was sich genau abgespielt hat an diesem Tag, auch wenn Müller das Gegenteil vorgibt. Darum muss man wohl akzeptieren, dass mit der Rechtslage in Florida und dem Grundsatz, dass im Zweifel für den Anklagten entschieden werden soll, eine Verurteilung schwer zu rechtfertigen war. Zumindest mir als Laie mit den öffentlich zugänglichen Informationen drängt sich dieser Eindruck auf. Das Problem sind die Gesetze, die eine solche Situation überhaupt möglich machen. Waffenrecht, Stand your Ground und Vigilantismus machten den Freispruch und da müssten die USA wohl den Hebel ansetzen. Ausser man entscheidet, dass solche Fälle den Preis für die Freiheit ist. Dies kann aber in Anbetracht der Minderheitenaspekts nicht durch einen einfachen Mehrheitsentscheid passieren in meinen Augen. Sonst riskiert das System damit seine Legitimität in den Augen der Minderheit zu verlieren.
Fakt ist: Das Justizsystem behandelt Menschen verschiedener Hautfarbe unterschiedlich. Die Hautfarbe bestimmt bei vielen ihre ökonomische Position und die Aufstiegsmöglichkeiten. Dies sind tief sitzende Wunden der Geschichte. Zimmerman ist vermutlich nur ein Blitzableiter. Wenn er dafür büssen muss, wird der Gerechtigkeit ein Bärendienst erwiesen. Betroffenheitstrolle wie Müller vernebeln lieber diese Probleme, indem sie ihren hauseigenen Mob mit Klischees und verstecktem Rassismus bedienen und diese zu den eigentlichen Opfern machen (“Umgekehrter Rassismus!” Und am besten funktioniert das, wenn es in einem sagenumwobenen Land in der Ferne auf der anderen Seite des Atlantiks stattfindet. Nein, “exzellent” ist das wahrlich nicht.
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