Nach einem Jahr in Berlin bin ich nicht mehr ganz auf dem Laufenden, was sich in der Schweizer Politik abspielt. Schon gar nicht in den Kantonen. Heute ist wieder einmal Abstimmungstag und ich habe zu meiner Überraschung gesehen, dass der Kanton Tessin über ein gegen Burkas gerichtetes Vermummungsverbot abstimmt.
Zum französischen Verbot habe ich schon einen Artikel geschrieben. Da viele offensichtlich nicht merken was für billigem Populismus sie bei solchen Vorlagen aufsitzen, möchte ich, auch für meinen inneren Frieden, wieder ein paar Zeilen dazu loswerden.
Ich werde die Argumente nicht im Detail wiederkäuen: Es ist in Zahlen kaum ein Problem und reine politische Spiegelfechterei. Darum zieht auch das Argument, dass es eine Massnahme gegen soziale Ausgrenzung sei, nicht wirklich. Dass es um den Schutz der Frauen ginge ist meist Heuchelei. Es kommt regelmässig aus einer Ecke, die schon bei der Erwähnung des Wortes Feminismus Pickel kriegt. Ausserdem sollte man das eigentliche Problem (also den Zwang) und nicht das Symptom verbieten, vor allem wenn man damit die Freiheit dritter einschränkt. Ein solches Gesetz ist schlicht auch eine Bevormundung von Frauen. Wenn man ein Zeichen für die Freiheit setzen will, wie es so oft heisst, soll man sich fragen, was das für ein Zeichen ist, wenn man eine Kleidervorschrift, die auf eine Minderheit abzielt und nur ein Geschlecht betrifft auf Verfassungsrang erhebt. Zur weiteren Lektüre hier ein Blogeintrag von heute bei Kenan Malik, der immer wieder ausführlich zum Thema Freiheit und Religion schreibt.
Hier soll es kurz um die Abstimmung im Kanton Tessin gehen (ich werde die Resultate in einem Update hinzufügen, wenn wir mehr wissen, es sieht so aus wie die Vorlage angenommen wird). Genauer geht es mir um diesen Kommentar von Marina Masoni. Das meiste in dem kurzen Text ist nicht sehr originell. Irgendwas im Abstrakten von Freiheit und Demokratie zu murmeln, ein einerseits-anderseits in der Luft hängen lassen, um dann auf der Linie dazwischen stehen bleiben, ist in meinen Augen weder sehr tiefgründig, noch sehr erhellend. Schon gar nicht ist es konstruktiv, wenn es um so grundlegende Fragen geht, was denn nun diese viel zitierten “demokratischen Werte” konkret für uns bedeuten. Schliesslich sind wir heute alle für Freiheit und Demokratie. Die Kommunisten, Berlusconi und die NPD.
Ein wunderschönes Beispiel für ein Gefälligkeitesargument ist jedoch der zweite Abschnitt ihre Kommentars.
Sie kann unsere Gesellschaft jedoch auch vor Situationen stellen, die ebendiesen Werten widersprechen, wie das Auftreten der Gesichtsschleier Burka und Nikab. Selbst im Islam ist umstritten, ob diese wirklich religiös begründet sind. Das ist aber für uns nicht entscheidend. Ein wesentlicher Grundsatz unserer Gesellschaft ist es, im öffentlichen Raum sein Antlitz nicht zu verhüllen. Schon immer zeigten wir in der westlichen Welt das Gesicht, um mit den anderen in Beziehung zu treten und ihnen zu ermöglichen, unsere Identität zu erkennen. Dabei wird toleriert, dass der andere unser Gesicht oder das unserer Frau, Mutter, Tochter oder Schwester sieht.
Hier wird ein Gegensatz zwischen “dem Westen” und “dem Orient” konstruiert und zwar auf einer denkbar dürftigen Basis. Der Vollschleier ist nur in wenigen islamischen Untergruppen üblich. Bei allen anderen liegt das Gesicht genau so frei. Und in jenen “Gesellschaften” ist das In-Die-Augen schauen und interpretieren von Gesichtsregungen genau so Teil vom “mit anderen in Beziehungen” treten, wie an den meisten Orten auf diesem Globus.
Ausserdem seit wann ist dies ein “wesentlicher Grundsatz” unseres Wertesystems? Dazu hätte ich gerne etwas mehr, als das Wort von Frau Masoni. Es ist vermutlich nur plötzlich Teil unseres Wertekanons, weil es eben gerade ein praktisches Argument ist. Die Liste der Ausnahmen im Gegenvorschlag ist ein Hinweis darauf, wie tief dies in “unserer Kultur” veranktert ist. Unter anderem offenbar Schutzbekleidungen, lokale Trachten und Kostüme. Sonst dürften in Zukunft Bräute an Hochzeiten nicht mehr im Schleier über den Dorfplatz, Karneval wird nur noch unmaskiert stattfinden und in der Skisaison hat man sich gefälligst für die westliche Demokratie an die Ohren zu frieren. Auch kennt interessanterweise meines Wissens nur eine Minderheit der Kantone ein Vermummungsverbot bei Demonstrationen und dort wo es eines existiert, war seine Einführung umstritten. Es sind wohl alles Kantone, die diese “westlichen Werte” noch nicht ganz verinnerlicht haben.
Frau Masoni erfindet hier also einfach ein Fakt. Westliche Instant-Werte zum Anrühren so zu sagen. Dieses kreative argumentieren illustriert sehr gut die Unehrlichkeit an der diese Debatte krankt. Es geht oft nur um politischen Punkte. Man konstruiert einen (fiktiven) “anderen”, man zitiere “westliche Werte”, die völlig beliebig sind, versteckt das alles, indem man an die Vorurteile des Zielpublikums appelliert und dann listet man möglichst viele Ausnahmen, um sicherzustellen, dass es nur die Minderheit betrifft, auf die das ganze abzielt. Man fragt sich, wie man die Demokratie vor jenen retten kann, die sie verteidigen.
P.S.: Die üblichen Verdächtigen werden hier bei Missfallen sofort devokalisiert. Ein Anspruch auf Begründung existiert nicht. Gejammer über diese Regeln oder deren Implementierung wird das gleiche Schicksal ereilen. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Durch die Tür hinaus, zur linken Reihe, jeder bitte nur ein Kreuz.
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