Vor ein paar Tagen wurde eine Meldung verbreitet, wonach ein Mitschnitt eines Telefonates zwischen der Vertreterin der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik Catherine Ashton und dem estnischen Aussenminister Urmas Paet ins Netz gestellt wurde. Dessen Inhalt wurde in weniger seriösen Schlagzeilen mit “Ukraine: Scharfschützen von Maidan Führern angeheuert” wiedergegeben. Oder wie in der FAZ sicherheitshalber mit einer unschuldigen Frage zusammengefasst (“Wer waren die Scharfschützen auf dem Majdan?”). Der Mitschnitt mag Fragen aufwerfen. Diese sind aber längst nicht so radikal wie man aufgrund des Brummens im Netz meinen könnte. Darum hier 10 spontane Regeln, wie man so eine Meldung analysieren kann, wenn man ihr zum ersten Mal begegnet und bevor man auf den “Absenden”-Button klickt.
1. Der Inhalt
Man sollte nicht einfach das hören, was angekündigt wurde. Welche Aussage wird genau gemacht. Im Ashton-Paet Telefonat ist das der Bezug auf die Einschätzungen einer Ärztin Namens Olga Bogomolez, die vor Ort war und die Aussenminister Paet nach seinen Angaben gebrieft hat. In der Übersetzung der FAZ wird sie indirekt von Paet so zitiert: “Ihr zufolge deuten alle Indizien darauf hin, dass Menschen auf beiden rivalisierenden Seiten von ein und demselben Scharfschützen erschossen wurden” (meine Betonungen).
2. Die Agenda
Politikerinnen und Politiker haben meist eine Agenda. Das ist auch in Ordnung. Um Politik zu betreiben sind sie schliesslich auch da. Ihr erstes Ziel ist aber daher oft nicht ein möglichst neutrales Abwägen von Informationen, sondern dass Sammeln passender Argumente, die sie ihrem Ziel näher bringen. Ob dies hier der Fall ist, kann ich nicht sagen. Weder kenne ich Paet, noch seine Prioritäten. Aber seine Position macht ihn nicht automatisch glaubwürdig. Auch zu Olga Bogomolez kann ich nichts sagen. Genau darum muss man vorsichtig sein.
3. Die Expertise
Die Person, die als Autorität bemüht wird, hat nicht immer die Expertise, die ihr implizit zugeordnet wird. Paet kann leichtgläubig sein, auch wenn er Spitzenpolitiker ist. Auch handelt es sich hier klar nicht um privilegierte Geheimdienstinformationen. Die Ärztin ist keine Expertin für Ballistik. Sie hat vermutlich kaum Zeugenaussagen systematisch zusammengetragen. Sie zieht ihre Schlussfolgerungen von der Stichprobe, die ihr in der Ausübung ihrer Arbeit unter die Augen kam (vermutlich eine Arbeit die unter grossem Stress und Druck gemacht wurde). Das erinnert mich ein wenig an den Appell an Autorität bei UFO Fans: “Die Pilotin sagte kein von Menschen gemachtes Objekt verhält sich so”.
4. Die Echtheit
Man muss sich immer fragen, ob der vorgelegte Beleg auch einen plausiblen Anspruch auf Echtheit hat. Dabei gilt es aber natürlich auch zu vermeiden, alles sofort als Fälschung abzutun. Ohne offensichtliche Anhaltspunkte lohnt es sich oft diesbezüglich agnostisch zu bleiben. Die typische Verschwörungstheorie steht normalerweise am Anfang und die Echtheit eines Beleges wird darüber definiert, ob er jene bestätigt oder nicht. Im vorliegenden Fall war es am Anfang schwer zu beurteilen. Dann tauchten von russischen Nachrichtenagenturen verbreitete Meldungen auf, Paet hätte das Telefonat bestätigt. Die Quellen waren zwar dann noch Grund genug skeptisch zu bleiben, aber man konnte vermuten, dass ein so einfach zu widerlegende Behauptung im besten Fall bei den betreffenden Agenturen wohl eher als Fehler raus gegangen wäre und nicht in bewusster Täuschungsabsicht. Inzwischen ist die Bestätigung sowieso offiziell.
5. Die Absicht
Der Zeitpunkt wo eine solche Meldung auftaucht ist oft nicht zufällig. Das war sie im vorliegenden Fall auch nicht. Gerade Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker geben ansonsten vor, stark sensibilisiert für diese Problematik zu sein. Es gilt dabei aber zwei Fallen zu vermeiden: Einerseits, nur weil eine Seite vermutlich etwas verbreiten möchte, sagt dies noch nichts zwangsläufiges über dessen Wahrheitsgehalt aus (in beide Richtungen!). Man kann es deswegen nicht einfach von der Hand weisen, aber man muss bei der Einordnung eben vorsichtig sein. Anderseits reicht es nicht zu durchschauen, wer die mutmassliche Quelle eines solchen Lecks ist, wenn man gleichzeitig genau das tut, was sie erwartet. Im Fall dieses Telefonats ging es vermutlich um eine Ablenkung oder gar Legitimierung der Besetzung der Krim. Verbreite ich die Meldung sofort unkritisch weiter, mache ich mich zum Teil dieses Plans, ganz egal wie ich mich persönlich positioniere und oft auch unabhängig davon ob die Meldung stimmt oder nicht.
6. Die Plausibilität
Dies ist häufig ein zentraler Schwachpunkt von Verschwörungstheorien. Ich habe das hier in diesem Blog auch immer wieder gesagt: Diskussionen über den Schmelzpunkt von Eisen, mögliche Formate von präsidialen Geburtsurkunden oder die zelluläre Zusammensetzung von Lebensformen aus Paralleldimensionen sind überflüssig, wenn die eigentliche Grundannahme nicht plausibel ist. Im diskutierten Fall ist sie zwar nicht so abstrus wie bei vielen anderen Theorien, die grössere Verschwörungen postulieren, trotzdem muss man ein paar grosse Fragezeichen setzen: Wenn die Opposition die Scharfschützen positioniert hätte, konnte sie den Ablauf der Dinge wirklich so gut voraussagen? Falls ja, warum hat sie dann den russischen Einmarsch auf der Krim nicht ebenso vorausgesehen? Eine unglaubwürdige Mischung zwischen Allmacht und Inkompetenz sind typische Zutaten von Verschwörungstheorien. Wären alternative Szenarien nicht genau so denkbar gewesen? Im Rückspiegel sieht alles oft so aus, wie es eine Einbahnstrasse wäre (auch als Teleologie bekannt).
7. Die voreiligen Schlüsse
Es geht um eine ganz allgemeine Warnung vor Schnellschüssen. Manchmal lohnt es sich einfach ein wenig zu warten, bis sich der News-Nebel etwas gelichtet hat. Dinge werden bestätigt (wie beispielsweise die Echtheit des Gesprächs durch Paet), Nachforschungen unternommen oder weiter Fakten kommen ans Tageslicht. Dann kann man, bevor die Meldung im Sumpf einschlägiger Foren als Bestätigungs-“Fakt” verschwindet, sie noch kurz richtig einordnen.
8. Die Konsequenzen
Eine gute Frage, die man sich stellen kann ist auch immer, wenn das nun alles stimmt, was bedeutet das genau für die Einordnung von Ereignissen. Selbst wenn Obama nicht auf Hawaii geboren worden wäre, ändert sich etwas, ausser aus einer legalistischen Perspektive? Wenn Bin Ladens Tod nur vorgetäuscht war, leben wir deshalb politisch in einer anderen Welt? Im Fall der Ukraine ändert sich nichts an der Besetzung der Krim. Es legitimiert Putins Handlungen kaum zusätzlich. Genau so wie die Opposition nun plötzlich “böse” ist und vorher “gut” war. Die Opposition war ein bunt gemischter Haufen, die wohl auch politisch auf einem breiten Spektrum positioniert ist.
9. Die Quelle
Normalerweise lohnt es sich nachzufragen, wo man so etwas liest. Nicht dass man Medien, die höhere redaktionelle Stnadards haben, blind vertrauen soll. Es ist aber wirklich so, dass bei der New York Times, der Neuen Zürcher Zeitung oder der Frankfurter Allgemeinen vermutlich die Messlatte etwas höher liegt, Fakten zu überprüfen, als irgendwelche obskuren Quellen, die durch Lautstärke Klicks generieren. Kennt man die Quelle nicht, ist Vorsicht geboten. Kennt man die Quelle, ist manchmal sogar noch mehr Vorsicht angebracht. Dies illustrieren auch die beiden Beispiele für Schlagzeilen, die ich Eingangs gegeben habe.
10. Die innere Logik
Durch die Verzettelung in Details oder die Fokussierung auf die vermeintlichen Konsequenzen, verliert man schnell aus den Augen, dass die Theorie auf Sand gebaut ist. Nicht selten gibt es alternative Erklärungen und die Fakten sprechen alles andere als eine klare Sprache. Wenn die Beobachtungen korrekt sind, wenn sie genau so Paet vermittelt wurden wie er sie darstellt, wenn er und Bogomolez keine spezielle Agenda damit verfolgen, wenn sie alles ohne selektive Wahrnehmung mit in die Gleichung genommen haben, wenn Bogomolez einen repräsentativen Einblick erhalten hat, wenn, wenn, wenn, … dann kann man immer noch schauen, wie überzeugend die Schlussfolgerungen sind (und es stehen da viele “wenns” dazwischen). Dass es Opfer auf “beiden Seiten” gab, die mit der gleichen Munition getötet wurden, lässt noch keinen Schluss darüber zu, wer dafür verantwortlich ist. Eine Verbindung zur Opposition ist auf Grund der Aussagen im Gespräch nicht möglich (ausser Paets Affirmation reicht einem). Wurden vielleicht die falschen getroffen (und welche waren die)? Woher wissen wir, dass die Schüsse in Frage überhaupt koordiniert waren (ich meine die auf jene Opfer, die Bogomolez gesehen hat)? Was ist zum Typ der Munition überhaupt bekannt?
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