Ich komme etwas spät zu dieser Party. Die Nachwahlbefragung zur von der Schweizer Stimmbevölkerung angenommenen Masseneinwanderungsinitiative wurde schon vor ein paar Tagen veröffentlicht. Ich bin erst jetzt darauf gestossen,1 da ich in der betreffenden Woche sozusagen (mehr oder weniger freiwillig) incommunicado war.
Wir erinnern uns: Schweizerinnen und Schweizer haben knapp beschlossen, dass der freien Personenverkehr mit der EU nicht begeistert und man darum gerne diesen spezifischen Aspekt aus einem ganzen Paket von Verträgen mit der Europäischen Union herausstreichen muss. Über eine mögliche Umsetzung habe ich schon gebloggt. Am Abstimmungstag selber musste aber wie immer bei Volksentscheiden über die Motivationen spekuliert werden, weil entsprechende Daten zu diesem Zeitpunkt noch nicht verfügbar sind.
Nach der Abstimmung sah ich zwei mögliche Erklärungen: Die Ja-Stimmenden waren naiv genug (zumindest so würde ich das bewerten), dass sie dem Versprechen glauben schenkten, dass die EU der Schweiz nach der Unterzeichnung eines Vertrages das Rosinenpcken in eben diesem Vertrag erlauben wird. Oder sie waren tatsächlich gut informiert und waren bereit, die ganzen Vorzüge der bilateralen Verträge aufzugeben, um weniger Einwanderung in die Schweiz aus EU Ländern ertragen zu müssen. Zweites hielt ich für weniger wahrscheinlich und das legte ich in der Diskussion auch dar. Ich habe in den Kommentaren und diversen Diskussionen wiederholt geschrieben, dass wir um mehr zu wissen, die Nachwahlbefragung abwarten müssen. Diese ist nun inzwischen erschienen.
Das Herunterbrechen der Resultate brachte wenige Überraschungen: Die Hauptmotivation des “Ja” Lagers schien ein nicht-spezifisches Unbehagen mit Einwanderung gewesen zu sein.2 Weniger Bildung machte eine “Ja” Stimme wahrscheinlicher ebenso wenn die Stimmbürgerinnen und -bürger auf dem Land und nicht in der Stadt leben. Letzteres deckt sich auch mit der Feststellung, dass vor allem Gebiete mit tiefem Einwanderungsanteil am meisten Probleme mit Einwanderung zu haben scheinen.
Wie schätzten die Befürworterinnen und Befürworter aber die Konsequenzen ein? Die deutschsprachige Zusammenfassung der Analyse stellt folgendes fest (Zitiert von Seite v):
Die Befürworter streiten insbesondere die möglichen Folgen der Initiative für die Europapolitik ab. Einerseits leugnen sie nicht nur die These, wonach die Annahme der Initiative zu einer Kündigung der bilateralen Verträge führe, sondern sie bestreiten auch ganz generell, dass die Zustimmung zur Initiative die Schweiz isoliere. Daher könnte man den Schluss ziehen, ein Teil der Befürworter sei sich der Folgen der Initiative für die schweizerische Europapolitik nicht bewusst gewesen.
Dies würde meinen Eindruck bestätigen. Der zitierte Abschnitt wird jedoch von einer Einschränkung gefolgt, die auf den ersten Blick tatsächlich auf einen Widerspruch hinweist:
Diese Interpretation wird jedoch von den Antworten auf das Argument widerlegt, man müsse das Risiko einer Kündigung der bilateralen Verträge mit der EU eingehen, wenn dies der Preis für die Kontrolle der Zuwanderung sei. Dazu ist die Meinung der Ja-Stimmenden eindeutig: sie sind grossmehrheitlich der Ansicht, man müsse dieses Risiko eingehen, ungeachtet der tatsächlichen Auswirkungen der Initiative auf die Bilateralen.
Ich sehe jedoch in dieser Aussage nicht zwangsläufig einen Widerspruch. Ich werte dies eher als einen Hinweis darauf, dass dieses Risiko eben als gering eingestuft wird. Die effektiven Kosten zum Zeitpunkt der Stimmabgabe sind als weniger hoch anzusehen, wenn das Eintretensrisiko als klein eingeschätzt wird.3 Natürlich spielt bei dieser Interpretation die Fragestellung eine wichtige Rolle. Aus der Zusammenfassung schliesse ich jedoch, dass nach den überzeugendsten Argumenten gefragt wurde und eine der Vorgaben war: “Wenn die Kontrolle der Zuwanderung zu einer Kündigung der bilateralen Verträge mit der EU führt, müssen wir dieses Risiko eingehen.” Das “wenn” wäre in dem Fall zentral.
Somit finde ich die im Bericht benutzte Wendung “ungeachtet der tatsächlichen Auswirkungen” irreführend, denn diesen Schluss lässt die Formulierung nicht zu. Dass das Risiko als klein eingeschätzt wurde, ist auch konsistent mit der Aussage in der Zusammenfassung der Analyse, dass “eine klare Mehrheit der Ja-Stimmenden” dem Argument Die Zuwanderung national kontrollieren zu wollen ist gegen das Abkommen zur Personenfreizügigkeit und wird zu einer Kündigung der Bilateralen Verträge mit der EU führen widersprochen hätte.
Ich habe also mit meiner Intuition gleich nach der Abstimmung, dass die meisten Befürworterinnen und Befürworter davon ausgegangen sind, man können Dinge, die einem nicht in den Kram passen, ungestraft aus den Verträgen raus streichen, wohl nicht so weit daneben gelegen. Nun kann ich natürlich nach wie vor mit der Einschätzung falsch liegen, dass die EU das nicht dulden wird. Zumindest kann ich mich aber in dieser Frage ein bisschen auf partielles Fachwissen berufen. Und da sehe ich nach wie vor Schwarz.
1 Falls es jemanden interessiert: Es ging um die wesentlich nerdigere aber ebenso interessante Frage, wie repräsentativ die Stichprobe der vox Analyse ist. Da diese die effektiv Stimmenden überrepräsentiert (wer nicht zur Urne geht, beantwortet auch weniger gerne politische Umfragen), wird die Beteiligung entsprechend gewichtet. Für die Altersgruppe der unter 30-Jährigen ergibt dies eine sehr tiefe Stimmbeteiligung, die sich nicht mit den Zahlen deckt, die wir aus den wenigen Gebieten haben, die eine entsprechende Aufschlüsselung vornehmen. Diese sind aber eher städtisch und darum ebenfalls nicht repräsentativ. Die NZZ am Sonntag hat über die Kritik berichtet und eine Stellungnahme vom gfs Forschungsinstitut gibt es auch dazu.
2 Mit “nicht-spezifisch” meine ich, dass es vermutlich keine rational einfach nachvollziehbares Argument war (z.B. “die Einwanderung von Ärzten und Ärztinnen aus der EU lässt unsere Gesundheitskosten steigen”) sondern mehr ein Grundgefühl (“genug ist genug”), das wohl die meisten kaum quantifizieren könnten und ziemlich sicher nicht in Korrelation mit effektiver Betroffenheit besteht. Dies ist jedoch teilweise spekulativ und die Antwort könnte auch Fragen bedingt so ausgefallen sein (mir liegt die Originalstudie nicht vor).
3 In der Regel ist der Mensch sehr schlecht im Umgang mit Risiko. Weder dessen korrekten Einschätzung noch ein rationaler Umgang auf der Basis der Einschätzungen gehören zu unseren Stärken. Aber ich ignoriere dies in diesem Zusammenhang mal, da es das Argument des rationalen und informierten Stimmenden (und nicht zuletzt darum geht es hier auch) nur noch mehr demontiert.
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