Gestern hat Washington den US-Bürgerinnen und Bürger in Libyen nahegelegt, das Land “unverzüglich zu verlassen.” Die Sicherheitssituation sei “unvorhersehbar und instabil.” Gleichzeitig wurde die USS Bataan mit 1’000 Marines Besatzung zum Bereitschaftsdienst in die Region gesandt, sollte eine Evakuierung nötig werden. Dies ist nur ein neuer Kulminationspunkt einer Krise, die seit Monaten schwelt. Da ich den Eindruck habe, dass nicht sehr prominent (falls überhaupt) über Libyen berichtet wird, hier eine kurze (und zwangsläufig oberflächliche) Anatomie eines auseinanderfallenden Staates.
Tripoli ist vielen Hauptstädten Westeuropas ähnlich nah (oder vielleicht besser: weit weg) wie Kiev. Trotzdem scheinen sich die geopolitischen Sorgenfalten vor allem beim Blick in den Osten zu bilden und viel weniger wenn man in den Süden blickt. Dies soll kein “warum berichten die Medien nicht mehr über…” Eintrag werden. Ich will nur kurz den Schweinwerfer etwas verschieben, weil nach den Ereignissen der letzten Tage (jene, die auch zur Evakuationsaufforderung durch die US Regierung geführt haben) Libyen vermutlich an einem Wendepunkt steht. Ob sich die Dinge zum Guten wenden werden ist im Moment noch ungewiss, die Situation wird als nicht sehr rosig eingeschätzt (pdf, Englisch, Wolfram Lacher für die Stiftung Wissenschaft und Politik).
Karte mit den Reisewarnungen für Libyen der Britischen Regierung
In den letzten Wochen drohte die Regierung mit dem Bombardement eines unter Nordkoreanischer Flagge fahrenden Öltankers in einem Libyschen Hafen, weil dieser ohne ihre Erlaubnis Öl für lokale Machthaber verkaufen sollte. Der Öltanker wurde am Ende von US Marines gekapert und zurückgebracht. Ein Premierminister wurde von einer Gruppe, die eigentlich für die Sicherheit in der Hauptstadt angeheuert wurden, entführt. Der nächste Premier war nur ad interim eingesetzt, trat dann aber zurück, nachdem seine Familie attackiert und beschossen wurde. Er versprach weiter zu machen bis ein Ersatz gefunden wurde. Dieser Ersatz wurde gewählt (mit Verzögerung, da das unbeliebte Übergangsparlament, an dessen Legitimität es auch Zweifel gibt, nach dem ersten Wahlgang von bewaffneten gestürmt wurde). Es ist aber nach wie vor umstritten, ob er das nötige Quorum tatsächlich erreicht hatte. Dies sind nur ein paar der klarsten Symptome des vorherrschenden Chaos, Symptome die es normalerweise in unsere Nachrichten geschafft haben. Vielleicht nicht prominent, aber es wurde darüber berichtet.
Das grosse Problem ist, dass die Zentralregierung kaum noch Kontrolle ausübt. Ein schwach gehaltener Staat konnte das Gewaltmonopol nach dem Abgang von Gaddafi nicht sichern . Darum bezahlte man Milizen um die Sicherheit zu gewährleisten. Diese Milizen haben sehr unterschiedliche Loyalitäten, verfolgen eigene politische Ziele und sind die einzigen Kräfte mit echter Durchsetzungsfähigkeit. Einen guten Überblick findet man hier (BBC) und hier (Al Jazeera).
Nun hat sich in diesem Chaos die Lage noch zusätzlich zugespitzt. Ein abtrüniger General (Khalifa Haftar)1 hat beschlossen in Benghazi eine Bombenkampagne gegen, gemäss eigenen Angaben, islamistische Milizen zu starten. Dies hat die Luftwaffe dazu gebracht, eine Flugverbotzone gegen sich selber über der Stadt auszurufen. Innerhalb von zwei Tagen gab es Kämpfe in Tripoli. Anhänger des General stürmten dabei das Parlament. Ein bisschen später flauten diese Kämpfe zwar wieder ab, doch brodelt der Vulkan weiter und die Gewalt kann jederzeit erneut ausbrechen. Inzwischen haben sich diverse Minister, Milizen oder eine militärische Spezialeinheiten auf die Seite des Generals Haftar gestellt. Gleichzeitig hat das Übergangsparlament, trotz Gewaltandrohung getagt und dem neuen Premier und sein Kabinett das Vertrauen ausgesprochen (Guardian und Al Jazeera). Für Ende Juni sind Neuwahlen des Übergangsparlamentes angesagt.
Die komplexen und fluiden Fronten scheinen sich mehr und mehr entlang dem Graben der Anti-Islamisten (der General Haftar und seine Anhänger) einerseits, und den Islamisten eher wohlwollend gesinnten Milizen und Gruppen (unter anderem das Parlament, der neue Premier oder eine schlagkräftige unter dem Namen Libyan Revolutionary Operation Room bekannte Miliz) anderseits zu formieren. Dies ist aber im besten Fall eine Orientierungshilfe. Eine Analyse die die Situation auf Pro-Islamisten gegen Anti-Islamisten verkürzt ist zu simplistisch und wird dem hochkomplizierten Gewirr von Allianzen und Loyalitäten in Libyen nicht gerecht.
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